Die Moralisten
vielleicht nie wieder<, sagte ich.
>Das muß ich riskieren, aber ich glaube, er kommt zurück.
Und wenn er kommt, dann werde ich ihn heiraten und die Spuren der Einsamkeit und Bitterkeit in seinem Gesicht löschen. Ich werde die Mauer, mit der er sich umgeben hat, niederbrechen - die Mauer aus Mißtrauen.<
Und sie hat recht behalten.«
In Janets Augen trat plötzlich ein seltsamer Blick. Sie schien weit in die Zukunft zu schauen. »Ja«, sagte sie, »Ruth hat für ihn getan, was sie schon immer tun wollte.« Sie wandte sich an Martin. »Was würdest du tun, wenn du noch einmal von vorn anfangen könntest? Was würdest du für Francis tun?«
Einen Augenblick starrte Martin Janet verblüfft an. Dann sprang er erregt auf. »Aber das ist ja blasse Theorie. Wir wissen alle, daß Francis tot ist.«
Die Flamme in Janets Augen glühte heller. »Was, würdet ihr tun, wenn ich euch sage, daß es nicht so ist?« fragte sie sanft.
Martin spürte eine plötzliche Schwäche. Er sank in einen Sessel und starrte Janet an. »Was willst du damit sagen?« fragte er mit zitternder Stimme.
Auch Jerry starrte seine Frau an. Auch er wollte wissen, was das zu bedeuten hatte. Er kannte zwar bereits einen Teil des Geheimnisses, aber jetzt sollte er den Rest hören.
»Wir wußten alle, daß Ruth ein Baby erwartete«, begann Janet und setzte sich so, daß sie den beiden Männern gegenübersaß. »Als wir das knappe Telegramm von Frank erhielten mit der Nachricht, daß Ruth bei der Geburt gestorben sei, aber ohne ein Wort über das Kind, nahmen wir an, daß das Kind mit ihr zusammen gestorben sei. Aber das war ein Irrtum. Du, Martin, warst bereits drüben, und wir konnten dir nur schriftlich mitteilen, was sich zugetragen hatte. Einen Monat später mußte Jerry einrücken, und eine Zeitlang schien alles Leben aufzuhören.
Ein paar Wochen vor Jerrys Heimkehr erschien ein Fremder bei mir. Es war ein Militärgeistlicher - ein Hauptmann aus
Franks Truppenteil, der Frank hatte sterben sehen. Wir wußten ja schon, daß Frank tot war. Das Kriegsministerium hatte mich am 16. April davon benachrichtigt. Aber Captain Richards brachte eine Botschaft: einen Brief, den Frank, kurz bevor er in einem Lazarett seinen Verwundungen erlag, dem Kaplan anvertraut hatte mit der Bitte, ihn persönlich zu überbringen.
Der Kaplan hielt sein Versprechen und erzählte mir von Franks letztem Wunsch, daß wir, als seine einzigen Freunde, den Inhalt des Briefes erfahren sollten, wenn wir alle zusammen seien«, sagte Janet und blickte ihren Mann an.
»Darum warst du mir gegenüber so geheimnisvoll«, sagte Jerry.
»Ja«, gab Janet zu. »Ich wollte, daß ihr beide zusammen den Brief hören solltet.« Sie ging zu einem kleinen Sekretär in einer Ecke des Raumes und holte den Brief hervor. Dann kehrte sie an ihren Platz zurück und begann ihn vorzulesen.
»Der Brief ist vom 5. Dezember 1944 datiert.
Liebe Janet,
ich schreibe einen Brief, der Dich hoffentlich nie erreichen wird. Es ist merkwürdig, etwas zu schreiben, was vielleicht gar nicht in die Hände des Empfängers gelangt. Aber noch merkwürdiger ist es, sich vorzustellen, daß dies doch einmal der Fall sein könnte. Wenn Du diesen Brief bekommst, bin ich nämlich tot. Ich schreibe dies nicht, weil ich Todesangst habe, sondern weil es in einem Krieg immerhin möglich ist, daß man ziemlich plötzlich stirbt.
Ich habe das Gefühl, als seien viele Jahre vergangen, seit wir am Tag D hier an der Küste gelandet sind. Dabei war es erst im letzten Juli. Seitdem ist mir manches durch den Kopf gegangen und manches klargeworden. Vieles ist geschehen, und es gibt vieles, was ich Dir mitteilen möchte, und vieles, worum ich Dich bitten muß.
Mein Leben mit Ruth und diese letzten fünf Monate in Europa haben mich gelehrt, daß man nicht leben kann ohne Rücksicht auf die Gesellschaft und den sogenannten Mann von der Straße.
Und so fing ich an, mich zu fragen, was mich eigentlich zu dem gemacht hatte, was ich wurde. Zum erstenmal wurde es mir klar: Schuld daran war, daß ich immer allein gelebt hatte. Ein Mann kann immer noch ganz allein leben, wenn er zwar seine Räume mit zwanzig anderen Menschen, aber sein Herz mit niemandem teilt. So hatte ich den größten Teil meines Lebens gelebt, bis ich Ruth heiratete.
Wie Du weißt, starb Ruth bei der Geburt unseres Kindes. Aber Du weißt, glaube ich, daß das Kind lebt, ein Sohn.
Ich hatte nie daran gedacht, Kinder zu haben. Ich wollte keine. Aber Ruth sagte: >Ich
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