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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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mannshoch wucherndes Büschel von Brennesseln peitschte ihm in das Gesicht. Der bewährte Blick hin zu den steinernen drei Morgenlandkönigen dort im Rundbogen über dem Eingang zur jahrtausendalten Kirche: Hallo, ihr meine Komplizen; da bin ich wieder, da sind wir wieder! – und die Antwort der Rundköpfe? Ein einhelliges dreifaches Naserümpfen (seltsam bei ihren Plattnasen), ein über ihn Hinwegsehen, ihn nicht mehr Kennenwollen, wobei sich nicht allein der Melchior in der Mitte in den Widersacher von der Alten Straße verwandelte, sondern auch die ihn flankierenden Kaspar und Balthasar, und das Gold-Weihrauch-Myrrhe in ihren Händen einheitlich in einen faulen Apfel. Da, in der Nische der hohen dicken Wehrmauer gegen die Türken – auch die aus dem Morgenland? – das daraus vorspringende Mesnerhaus, dessen eingedunkeltes Holz und die hellen Fensterrahmen seit jeher ein Vorbild an Wohnlichkeit: doch auf den Simsen vor den trübgewordenen, zum Teil auch geborstenen Scheiben statt der Blumentöpfe jetzt Tauben um Tauben, räudig sie alle, als Zeichen einer schon langdauernden Unbewohntheit und Verlassenheit. Und so jäh wie zuvor der Windstoß bebte dann, nach den ersten Schritten des Heimkehrers in den Friedhofsbereich, die Erde unter seinen Füßen, momentlang, wobei die allgegenwärtigen Spatzen als Ratten vor ihm hin und her huschten und die Zwischenräume, sonst die Umrisse einer noch und anders möglichen Welt, die Gestalt von ihn umzingelnden Häschern annahmen.
    Um ein Haar wäre er in dem Beben der Länge nach hingeschlagen. Aber er fing sich und zitterte im nachhinein. Zugleich, wie bei einem Faststurz üblich, sah er in der Folge den Umkreis umso schärfer, Einzelheit um Einzelheit gleichsam im Brennpunkt einer Nachschrecklupe. Und in dieser Lupe kam ihm dann, zwischen den Halmen des Friedhofsgrases, eine sehr besondere Völkerwanderung unter. Da bewegten sich, nicht viel größer als Ameisen, winzige Frösche. Sie hatten gerade noch als schwarzglitschige Kaulquappen durcheinandergewimmelt in dem den Friedhof säumenden Dorfteich, eher einer bloßen Lache, und waren über Nacht zu fingernagelkleinen hellgrauen Fröschen, statt des Quappenschwanzes zarteste vier Beine, geworden. Vier Beine? Eher ein Beinpaar und ein Armpaar, wodurch die Tiere, auch in der Form der Köpfe, an Menschlein erinnerten. Der Eindruck, daß da ein Menschlein nach dem anderen durch das Gras zu ziehen schien, kam auch davon, daß sie einander nicht auf den Fersen waren wie vielleicht bei einer Ameisenstraße, sondern jeder für sich, im Abstand, seinen Weg suchte und sie zusammen doch ein Wandervolk vorstellten. Unbeholfen tapsten und ruckelten sie dahin, im Zickzack, ungeordnet, ausscherend; robbten, tasteten, kundschafteten sich vorwärts, weg vom Wasser, in dem sie geboren waren, hin zum Wald, wo sie, wenn es den Wald noch gab, fürs erste leben und aufwachsen würden. Immer wieder auch stockten sie, wie ermattet, und mühten sich endlich weiter, an den Armen jeweils den Körper nachziehend, was ihnen, obwohl sie auf einer eher ebenen Fläche wanderten, ein Ärmchen vor das andere setzend, den Anschein von Kletterern gab. Nicht bloß an einen Menschen erinnerte so ein jeder, sondern an das Urbild eines Menschen, und wenn das von dem Blick durch eine Lupe herrührte, so durch eine, die in dem Maß, wie sie vergrößerte, zugleich auch verkleinerte, und in dem Maß, wie sie jetzt, im Hier und im Jetzt, an dem bestimmten Morgen in dem bestimmten Areal, wirkte, zugleich auch zurückwirkte in die Nacht der Zeiten, und diese augenblicksweise aufhellte. Ein neuerliches Entrücken geschah derart, wieder so eines; das ein Zurechtrücken war. Auch wenn der Urmenschenzug im Gras ganz woandershin unterwegs war, ließ er sich von ihm führen und gelangte schließlich ungehindert an die Grabstätte, die sein Ziel gewesen war. Tag des ersten Zitronenfalters. Tag der Falkenschreie. Tag der im kalten Wind erfrierenden Hummeln. Und jetzt der Tag der Winzfröschevölkerwanderung.
    Die Entrückung, und mit ihr der Friede, war nicht von Dauer. »Warum nur, warum nur?« entschlüpfte es dem Erzähler auf dem nächtlichen Boot, während die fremde Frau vom Bug, dort schon kaum mehr zu ahnen, hinten zum Heck lief und sich unseren Blicken vollends entzog, so als solle damit das in der Geschichte nun Folgende gleichsam durchgestrichen oder eingeschwärzt werden. Die Stunde des Wahnsinns, der den Wanderer gepackt hatte bei dem Wiedersehen mit der ihm

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