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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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»lechzten« danach. Und in gleicher Weise lechzte er jetzt nach ihr, der Frau seines Lebens. Es dürstete ihn nach ihr, es hungerte ihn nach ihr. Nach außenhin reglos, still versunken, verzehrte er sich nach ihr. Im stillen bettelte er geradezu: »Komm. Komm zurück. Komm zurück zu mir.« Und ebenso wie einst von Nachbarskind zu Nachbarskind: »Seien wir wieder gut.«
    Indem er sich umdrehte, stand sie tatsächlich da, lächelnd, dem Anschein nach unversehrt, als wäre nichts gewesen. Für einen Augenblick lächelte er zurück. Aber dann: Wiederaufwallen des Wahns. Oder war es nicht doch Wirklichkeit, daß an ihrer Seite der Bösewicht lächelte, der Scheinfreund »Melchior« von der Alten Straße, sein Todfeind, und nicht nur der seine? Er war es. Und sie war mit dem Gottseibeiuns verbündet. Zwei Teufel standen da, ein Teufelspärchen lauerte ihm auf. Und wieder: Ein Teil seiner selbst schloß in der Vorstellung sie in seine Arme und verharrte mit ihr Stirn an Stirn, ein für allemal. Und der andere Teil, von dem er zugleich wieder klar wußte, daß es keineswegs ein Teil »seiner selbst« war, tat das der Vorstellung gerade Entgegengesetzte und wurde neuerlich tätlich. Und wie? Der Ex-Autor hatte vergessen zu erzählen, daß er sich nachts an der Alten Straße einen Haselstock abgeschnitten und am einen Ende zugespitzt hatte, zum Gehen und vielleicht auch zur Verteidigung: den schleuderte er jetzt, mit der Spitze nach vorn, als Speer gegen das Satanspaar. Immerhin: Er zielte dabei nicht auf seine Liebe, sondern auf ihren Einflüsterer, den er, versteht sich, traf, mitten ins künstliche Herz, worauf der vom Haselholz Durchbohrte, wie sich das gehörte, mit einem Knall sich in Luft auflöste.
    Doch auch sie, als er nach dem Wurf endlich die Augen aufmachte, war verschwunden, durch die Mauertür in den Bereich jenseits des Dorffriedhofs. Als Antwort auf seinen Speerwurf nichts als ein Klagelaut, den er auch noch im Ohr hatte, als er in jener Nacht auf der Morawa davon erzählte, so als sei es doch sie, die er in ihr Herz getroffen habe – ein Laut so jammervoll und zugleich sanft, zwischen Weinen und Husten, daß er gleichwen zur Besinnung gebracht hätte – nur nicht in seiner Wahnsinnsstunde ihn. Und gleichzeitig ein Gedanke, ein einziger, in Form einer Frage: »Wer rettet uns?« Und als er das erzählte, wurde diese Frage, mit der Stimme der fremden, uns unsichtbaren Frau, vom Bootsbug her wiederholt, aber es schwang kein Klagen da mit, auch kein Bitt-Ton, und wenn, dann eher im Nachspiel.
    Wie sie nahm er den Weg durch die Mauertür in den Hinterbereich des Friedhofs. Er folgte ihr aber nicht. Viel Zeit sollte vergehen nach ihrem Verschwinden.
    Gerade noch war es Morgen gewesen, und jetzt läutete von der Kirche des Alten Dorfs schon die Vesper-, die Vorabendglocke. Und zwischendurch hatte sehr weit weg der Muezzin von Neu-Samarkand die Gläubigen, die Muminin , aufgefordert zum Fünfuhrgebet. War der Wanderer im Stehen vor dem Sippengrab eingeschlafen? Die Vesperglocke läutete, wie er sie noch nie gehört hatte: jeweils ein Zweiton, erst hoch, dann tief, eine Quint, wie sie eigentlich verpönt war, so trauervoll und trostlos klang sie, jenseits des vertrauten Bimmelns für einen einzelnen gerade Verstorbenen, keine Toten-, sondern eine Trauer- und Trostlosigkeitsglocke, ein Zweiklang der allgemeinen Trauer, zu spüren zusätzlich durch den ungewohnten Zeitraum der Stille zwischen Klang und Klang, worin die Trostlosigkeit sich noch ballte. Sonst hatte diese Glocke doch in die Landschaft und in die Weite, zu den Horizonten hin geläutet. An diesem späten Nachmittag aber blieben ihre zwei Quintschläge jedesmal in dem Rundmuster der schmalen Durchlässe oben in der Kirchenfassade, in den Transennen stecken: kein Durchlaß waren die mehr, keine Rede mehr von einem »trans«.
    War es eine Regel, daß auf eine Aktion wie den gewalttätigen Lanzenwurf, die einen eigentlich aus der Bahn werfen und den Geschehnissen eine grundandere Wendung hätte geben oder die Geschichte überhaupt hätte abbrechen lassen sollen, im Gegenteil die Pläne und Vorhaben, die man sich vielleicht schon lange vorher ausgedacht hatte, umso entschlossener, auch penibler ausgeführt wurden, so als ob gar nichts geschehen wäre? Wie nach einer solchen Regel jedenfalls ging er durch die Mauertür auf die Felder hinter dem Friedhof und auf den von wieder einer Mauer umschlossenen Obstgarten inmitten der Felder zu. Diese schienen zunächst

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