Die morawische Nacht
Minderheit –, das Minarett und die Kopftuchfrauen, die er zuerst für Nonnen, aus dem nahen Kloster, gehalten hatte, auch die paar Verschleierten, waren da nicht das Bestimmende, eher eine Begleiterscheinung.
Wo war er? Himmel, wo war er? Auf den Kopf gestellt, so fremd, kam ihm die vermeintliche Kindheitslandschaft vor, und ihm selber war, als würde beim nächsten Versuch einer Orientierung sein Inneres nach außen gestülpt, und er wäre ein Teil des Chaos, das, wohin er auch blickte, von allen Seiten ihm auf den Leib rückte. Er wollte weiter, weg von da, heim ins Dorf. Aber wohin er sich auch wendete: der Weg war versperrt. Kein Zutritt. Seinen Schutzengel hätte er jetzt gebraucht? Zu spät. Vorher, vor dem Betreten dieses »Samarkand«, hätte der ihm notgetan, als Warnengel. Und obwohl er, sich in einem fort umwendend nach der Geschlagenen, sie nicht zu Gesicht bekam, spürte er sie in seinem Rücken, jetzt erst recht seine Verfolgerin. Wo war sie? Wo war er? Und wer war er? Kein Wanderer mehr – ein Verfolgter, ein Gehetzter, auch von sich selber. Nicht einmal der Tau, während der Nacht in den sichtlich frischgepflanzten Straßenrandbäumchen angesammelt und in der Morgensonne wie ein Segen aus den Blättern sprühend, in einem Strahlenkranz aus allen Regenbogenfarben, gab ihm Asyl, oder winkte ihn weiter.
Es war längst Tag, und eine Fledermaus zickzackte durch sein Blickfeld, und narrte ihn. Oder war das eine Schwalbe gewesen, die ein Gewitter anzeigte, indem sie in der unvermittelt heranwallenden Schwüle nah am Boden kurvte? Nein, die Schwalben flogen, als wäre nichts, sehr hoch oben, während es auch schon blitzte und donnerte: Auch die Schwalben, sie narrten ihn. Ein Kamel schaukelte vorbei, das zu einem Wanderzirkus gehörte? Nein. Der Löwe, der jetzt einmal kurz aufbrüllte, aber wohl? Oder war das ein Mensch gewesen, hinter einem der geschlossenen Fensterläden? Eine Katze sprang an ihm empor, und, sage und schreibe: Sie krähte. Eine Viper kroch über den Weg, die ein dürrer Ast war. Eine Bremse quietschte, und er sprang zur Seite; aber was da quietschte, das waren seine Schuhe. Ebenso kam der Steinschlag, vor dem er sich duckte, von den auf seiner Wanderschaft angesammelten Steinen, indem sie in seiner Manteltasche gegeneinanderknallten. An einer Grasstelle bückte er sich nach einer Kupfermünze, die, unter den Tautropfen, eine kupfer- oder bronzefarbene war. Als nächstes sah er in dem einen roten Blütenblatt auf einem Gehsteig einen Plastikfetzen und wollte den in einen Abfallkorb werfen, ebenso dann einen schrundigen länglichen Kiesel, den er für ein kaputtes und einfach fallengelassenes Mobiltelefon hielt, und als er den einen Metallstift aufhob, war der ein dicker Regenwurm. Überhaupt erwies, was er hart geglaubt hatte, sich im Moment des Anfassens als weich – im umgekehrten Fall war das, vergleichsweise geradezu beruhigend, auch, wenn etwas, das er flüssig gesehen hatte, sich im Berühren als fest herausstellte, im Gegensatz zu dem fest und trocken Geglaubten, welches dann zum Zurückschrecken naß war.
An einem fremderen Ort, unter fremderen Menschen, Tieren, Dingen als jetzt hier in seiner Stammgegend hatte er sich nie bewegt. Bewegte er sich? Er irrte herum, und nicht einmal im Kreis, was wiederum geradezu beruhigend gewesen wäre. Nichts wiederholte sich in der Stunde seines Herumirrens. Auf den Straßenspiegel, in dem sich die Landschaft hinter der Kurve spiegelte, folgte ein wie identischer, aber diesmal mit seinem, des Irrenden, Spiegelbild, vor dem er, als vor einem totschlagbereiten Fremdling, nicht bloß einen Schritt zurückwich. Selbst das Unbezweifelbare ließ ihn in einer Ungewißheit, minderte wenig an dem Schwindelzustand, an dem Gefühl, nicht zu wissen, wo ihm der Kopf stand. Auf einem Parkplatz, einem Parkplatz wie überall auf der Welt, saß einer hinter seinem Auto auf einem Hocker und blies in eine Tuba, den immergleichen gedehnten Ton, mit einem Echo von den Ortsmauern wie dem eines Alphorns. Ein anderer saß auf einer wie aus einer anderen Epoche übriggebliebenen, mit einem halbverwitterten Edelweißzeichen bemalten Wegbank und las, hochaufgerichtet, in dem arabischen Buch, nicht unbedingt dem Koran, eher etwas von Ibn'Arabî, wahrscheinlich »Das Buch über das M, das W und das N«, das Geheimnis der Buchstaben, und zeigte sich dabei im Unterhemd, ließ seine nackten Arme und Schultern sehen, die über und über tätowiert waren, ganz und gar nicht
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