Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
Schiff. Und wieder bildete er sich wohl etwas ein: den Bohlenweg schon gesehen zu haben, vom Flugzeug aus.
    Sein Blick mußte so verengt gewesen sein auf das Dorf, daß er all das Neudazugekommene rundherum nicht einmal registriert hatte? Und längs des Weges traf er dann auch auf Reste des alten Dorfs. An einem Haus hatte sich, wenn nichts sonst, das eine blinde Fenster erhalten, mochte es auch bemalt sein als ein richtiges Fenster samt Fensterkreuz, in diesem eine dahineingemalte karminrote Pelargonie und daneben der Oberkörper eines sich auf die gemalte Fensterbank stützenden Kindes, und das hieß ihn mit großen hellblauen Augen willkommen? bedachte ihn eher mit einem Medusenblick, der ihn, wie der zeitweise ihn weiter anknurrende Hund, zum Zurückweichen oder überhaupt Umkehren bringen sollte. Und die Leiter an einem anderen Haus, zunächst ihm ebenfalls als da aufgemalt erschienen, erwies sich dann aber als eine echte, die ihm vertraut vorkam. Er stieg ein paar Sprossen da hinauf: Ja, sie war es. Ein viel längeres und auch breiteres Brett als die übrigen: Überbleibsel der Kegelbahn? Ja, sie war es. Und in dem einen ebenerdigen Fenster eine echte karminrote Pelargonie, und dahinter, mit wackelndem Schädel und mitwackelndem, gebißlosem Unterkiefer, das Gesicht einer uralten Frau, die er nicht erkannte, wohl aber sie ihn. Unverwandt ihn durch die Blätter der Topfpflanze anstarrend, verfluchte sie ihn, ohne Worte, allein mit den Augen.
    Da war er dann endlich, der Friedhof, mit der Kirche daneben. Beide hatten einmal freigestanden und waren jetzt so zugebaut, daß man erst auf der Schwelle zum Durchgangstor halbwegs sicher sein konnte, richtig zu sein. Aber war das nun wirklich die Gräberstätte? Die Stimme des Muezzin, die aufrief zum Vormittagsgebet, war so nah, daß sie von dem alten Kirchturm oben zu schallen schien. Oder war das bloß der Widerhall, um ein Vielfaches verstärkt durch die den Schall vom Minarett am Ortsrand von Winkel zu Winkel weiterleitenden, dichtverschachtelten Neubauten? Doch, das war der Friedhof, und das war vor allem das alte Durchgangstor zu ihm und der Kirche, mit der gemauerten Sitzbank seitlich im Tor, obenauf die verwitterte, unverwüstliche Holzplanke – ah, wie vor allem das Holz ihn leitete, Holz um Holz –, und die ihm immer noch rätselhafte Ausbuchtung in der Holzplanke, Schmalstelle, die gerade Platz ließ für einen Kinderhintern, da zu thronen und ewig so fortzuthronen. Ja, es war der Friedhof, wo seine Vorfahren begraben lagen, und es war das richtige Tor da hin, und wenn dieses, bewirkt durch die fernnahe Stimme des Muezzin von der Neusiedlungsmoschee, im Augenblick einen orientalischen, sozusagen von Samarkand dahergewehten Namen bekam, nämlich Bab al-Mandab, das heißt »Tor der Totenklage«, so verstärkte das noch das Gefühl, hier richtig zu sein, das Bewußtsein und die Gewißheit, daß es wirklich wahr hier war.
    Was nicht alles freilich ihn dann am Zutritt hindern wollte, abgesehen vom hauseigenen Hund und dem Todwunschblick der Greisin, deren letzter Tag auf Erden heute wohl war. Was nicht alles leibhaftig über ihn herfiel bei seinem Durchschreiten des Bab al-Mandab: ein Schmetterling, der ihn mit einem unvermutet harten Körper seitlich anrempelte, eine Libelle, deren Flügelpaar ihm messerscharf die Wange ritzte, ein Kolibri, oder war das ein Zaunkönig, auf Samarkandisch ein minmina, der ihm die Flügel um die Ohren schlug?, zu schweigen von den Schwärmen schwarzer, nicht unbedingt morgenländischer Fliegen, die sich von allen Seiten geradewegs auf seine Augen, zielsicher genau auf diese stürzten. Sogar die harmlosen Hummeln, die ihm eigentlich hätten erkenntlich sein können dafür, daß er sie zuvor so teilnehmend wahrgenommen hatte, ließen links und rechts gegen ihn ein Brummen laut werden, bei dem, indem es anschwoll, er an das Gedröhn von Hornissen?, nein, von etwas anderem, etwas ernstlich Bedrohlichem denken sollte. Nein, es für die Bedrohung selber halten sollte.
    Stellte sich denn alles gegen ihn? War denn jedes Ding und jedes Wesen gegen seinen Zutritt in das, was er im stillen einmal sein »Zentrum« nannte, ein andermal seinen »Schrein«? Nichts, was ihn willkommen hieß, ihm das Geleit gab? Selbst die Schwelle des Durchgangstors, aus runden, in den Boden eingelassenen Bachsteinen, hatte ihn am Weitergehen hindern wollen, indem sie ihn an ihren taunassen Gupfen zurückrutschen ließ. Ein Windstoß, und ein neben dem Tor

Weitere Kostenlose Bücher