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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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mit den heiligen Buchstaben, und auch das, wie der Tubaspieler, war keine Täuschung, ebenso nicht dann der dritte, der vor einem verschlossenen Tor, groß wie das einer ehemaligen Scheune, stand und jemanden oder eher niemanden dahinter anflehte, dann verfluchte, dann verstummte und sich zum Gehen schickte, kehrtmachte und seine Bitten, übergehend ins Verwünschen, fortsetzte, in Schweigen verfiel und neuerlich den Platz räumte, neuerlich stehenden Fußes umkehrte und gegen das Scheunentor anschrie und anfuchtelte, undsofort, und ebenso war es unzweifelhaft, daß wieder einer der An- oder Ausgesiedelten, inmitten der ihn übersehenden Menge, vor einem ausgebreiteten Teppich zu beten versuchte, den Blick in eine Ferne gerichtet, die wiederum nicht unbedingt die Kaaba anzeigte, sondern eher das Hinterland hinter sämtlichen Hinterländern, und mit seinem Beten, so sehr er auch sich als Ganzen, nicht nur an den Fäusten, zusammenballte, jeweils im letzten Moment vor seinem Eins- oder Nichtswerden mit dem Alleinigen, scheiterte, wobei ihm jedesmal wieder die bittersten der Tränen in die kohl- oder kholschwarzen Augen schossen und man, indem man ihm zuschaute, wußte, der in seinem Gebetssturm noch und noch ins Leere Laufende würde, früher oder später, auch daran gab es keinen Zweifel, eine Maschinenpistole oder, nein, eher einen Säbel ziehen und damit auf die so frevelhaft gleichgültige Menge losgehen. Und er, der das wahrnahm? Er wäre sein erstes Opfer, auffällig nicht nur aufgrund seines Blicks: Wie in manchen Alpträumen, nein, Nachtmahrmomenten, war ihm, am hellichten Tage, als bewege er sich, Schande wie eben einzig im Traum, barfuß inmitten der Menschenmassen, oder sei vielleicht überhaupt fast nackt, bekleidet nur mit einem gar kurzen T-Shirt, das nicht genügte, so sehr er auch daran zog, seine Blöße zu verdecken.
    Endlich wieder eine Grasstelle, und da kauerte er sich hin. Und endlich gab sich da dann etwas zu erkennen. Er erkannte an dem Gras eine Form: ein Dreieck. Woher kannte er bloß das Dreieck, gerade dieses? Und – zitternde Sekunde – jetzt wußte er es: Das Grasdreieck, umschlossen von Schuppen, Baracken, Sandstellen, bezeichnete die Abzweigung des Weges von der Alten Straße zu dem, seinem Alten Dorf, bezeichnete dessen Schwelle; die zwei Schenkel, gleich, bildeten die Einmündungen, linker- wie rechterhand, in die einstige Hauptverkehrsader, die längst verbaut und Teil der Ortschaft war. Und die Ortschaft selber, sie war sein Dorf, das in der Zwischenzeit weit über die Ränder gewachsene. Ohne daß er dessen inne geworden war, hatte er sein Hauptreiseziel erreicht. Mit dem wie eh und je grünenden Dreieck, auf dem er auf den Fersen hockte, begann das ursprüngliche Weichbild (so hieß das doch?) seines Geburtsorts. Der Wanderer brauchte nur an der Scheitelspitze geradeauszugehen. Den Weg in den Dorfkern gab es noch, zur geteerten Gasse geworden, gesäumt von Wohnhäusern, Läden, auch einer Bank mit der Aufschrift »Western Union«, statt mit den Obstgärten, in denen die Schweine gegrunzt und die Truthähne gekollert hatten. Und da ging er auch schon, leicht bergauf wie in den alten Zeiten, sich immer wieder um- und umdrehend, aber nicht mehr nach einer Verfolgerin. Ein Hund rannte ihm entgegen, der von Porodin? der seines Bruders? Nein, der Köter erkannte ihn nicht, oder wollte ihn nicht erkennen; statt ihm über Hände und Gesicht zu lecken, knurrte er ihn an, wich nur Schritt für Schritt in das Dorf, oder was von dem übrig war, zurück. Samarkand, fiel dem Möchtegern-Heimkehrer dann auf, hatte dieselben Selbstlaute wie Stara Vas , der Name des Dorfs, und gleich viele: A-A-A. War also nicht doch eine Heimkehr möglich?
    Mit der Zeit entfernte sich das Getöse von dem Neusiedlungsgürtel, oder er bildete sich das nur ein? Je mehr er sich der früheren Mitte näherte, desto dichter erschien ihm jedenfalls die Stille. Außer ihm war niemand auf dem in eine fast städtische Gasse verwandelten einstigen Heimweg. Kaum mehr ein Baum stand, und trotzdem hörte er ein Rauschen, wie hoch oben aus den Lüften. Unversehens flog dann ein dicker Ast daher und krachte neben ihm zu Boden; um ein Haar hätte er ihn erschlagen. Und noch einmal verwandelte sich, nach einer Kurve, die gleich geblieben war, die Gasse – zurück in einen Weg. Dieser war ausgelegt mit Holzbrettern, leicht erhaben über dem Grund, mit einem Hohlraum unter sich, und das Geräusch beim Gehen da war wie das auf einem

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