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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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unverändert, bis auf die Bewässerungsrohre, die sie in der Diagonale durchzogen. Aber nein, das war eine Pipeline, und die Felder lagen brach, das spärliche Grün auf den Schollen eher eine Rostfarbe. Auch das Überklettern der Obstgartenmauer hatte zu dem Plan gehört, und entsprechend, ruckzuck, geschah es, ohne daß, wie in der Kindheit, ein kindlicher Spießgeselle einem die Räuberleiter zu machen brauchte. »Räuberleiter«: das traf im Wortsinn zu. Denn der Obstgarten war seinerzeit ein fremder, ein verbotener gewesen, und die Kinder überstiegen die Mauer rein zum »Räubern«, was ihr Wort für »stehlen« war. Von Anfang an und bis jetzt waren ihm Diebe zuwider gewesen, nur Obst- oder Obstgartendiebe nicht. Seinen Lebtag lang war er ein Obstdieb gewesen und bekannte sich auch dazu. Das Obstdiebstum machte einen Teil seines Selbstbewußtseins aus, weit hinaus über das Wanderer- oder Schreibertum. Schon als Kind wußte er von jedem Obstbaum der Gegend, wann dort die ersten Früchte reiften, und … Sein erstes Buch hatte zum Titel »Die Birnendiebe«. Und bis jetzt auch konnte er an keinem fremden Obstgarten vorbeigehen ohne zumindest einen Versuch, und sei es auch bloß in Gedanken, dort zu räubern. Der Zaun oder die Mauer zu den Fruchtbäumen, deren Wipfel ihn mächtig herbeiwinkten, mußte, wollte das auch, überklettert werden, hin zum Verbotenen, ins Zentrum des Wirklichen. Und hätte er es noch so eilig: nichts, würde ihn im Ernstfall hindern an dieser wesentlichen Abweichung.
    Wie damals also auch jetzt über die Mauer geklettert – Vorhaben ausgeführt. Nur wo waren sie, die Apfel-, Birn- und Zwetschkenbäume? Ein Urwald hatte sich gebildet, und einer ohne Fruchtbäume. Diese standen zwar noch da und dort im Unterholz, aber längst abgestorben. Einem Apfelbaum, der lebte, begegnete er, während er sich durch das Dickicht schlug, und der blühte, weiß, und trug zugleich schon Früchte, kleine, die auch nie größer werden würden: Er hatte sich zurückverwandelt in einen Wildapfelbaum. Und dunkel war es in dem wiedergekehrten Urwald, nachtdunkel. Und war es nicht tatsächlich schon Nacht? Einzelne Lichter brannten, funzelten hinter dem Busch- und Lianengewirr, die, war das möglich, zu Zelten, ja zu Zelten gehörten, einzelne Stimmen auch, einzeln, für sich, auseinandergestreut, wie die Windlichter, und die Zelte, die allesamt eher Unterschlüpfe aus Plastik, zum Teil zerrissen, waren: Obdachlose nächtigten da, und nicht einmal Hunde hatten sie bei sich. Dafür lag mancherorts ein Fußabstreifer vor einer Obdachloseneinheit, oder ein wie echter, erdbeerfarbener Kelim schaute unter den Plastikfetzen hervor, oder ein Piepsen wie von einem batteriebetriebenen Computer drang ins Freie, oder eine geblümte Porzellanschüssel stand auf einer aus Rinden- und Keramikstücken gefügten regelrechten Zeltschwelle, gefüllt bis oben hin mit vom toten Holunderholz abgelösten rotschwarz schimmernden chinesischen Morcheln, nicht aus China, sondern an Ort und Stelle gewachsen, die bei den Einheimischen des Alten Dorfs damals den Namen Judasohren hatten, während sie jetzt in der Schüssel beschriftet waren, vielleicht für den Verkauf an die Mitobdachlosen, mit ihrem asiatischen Namen »Mu-Leh«. Und einige Schritte weiter – auch Übersprünge, Klimmzüge, Durchschlüpfe, Robben auf dem Bauch oder auch mit den Füßen voraus – traf er in der Fastfinsternis auf einen leibhaftigen Asiaten. Die anderen Urwaldbehauser waren ihm bloß zu Ohren gekommen, mit ihren Stimmen zeitweise hinter den meist blauen Plastikplanen, Stimmen, die allesamt ein Selbstgespräch führten. Der Asiate jetzt, der Mongole, gab sich als einziger zu sehen, und zwar als einer ohne ein Obdach über sich, nicht einmal eines aus Holzknüppeln. Er saß da inmitten der Wildnis in einer Mulde, die der Wanderer als den Bombentrichter in dem einstigen Obstgarten erkannte, sichtbar allein Kopf und Oberkörper, der nackt war, hochaufgerichtet, reglos, das Gesicht im Profil, wie vielleicht nur einer aus Asien es in die Luft halten konnte, so abseits, geisterhaft, aus der Welt und fast schon hinüber, und zugleich so gegenwärtig und mit seinem bloßen Sitzen in der Mulde einen Kreis um sich ziehend, der als ein Thronkreis wirkte. Nein, das konnte kein Obdachloser mehr sein. Das war einer schon jenseits aller Obdachlosigkeit. Ein Muldenheiliger. Seinen Kreis nur nicht stören. (In der Tat erschien der rundum markiert, mit Stapeln von Ordnern,

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