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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Zugedachten an der Einmündung der Alten Straße in die neue, war nämlich noch nicht vorbei. Ein Zeichen war es da schon, daß er stumm blieb vor dem Grab seiner Vorfahren, so wie auch sie, die Vorfahren unter, über, hinter dem Stein, oder um den Stein herum, kein einziges Wort zu ihm sprachen. In den früheren Besuchszeiten war es zwischen ihm und ihnen in der Regel hoch hergegangen, hoch und still, so still wie hoch. Ein Kreistanz aus lippenloser, dafür umso inbrünstigeren Rede und Antwort, Antwort und Rede war das gewesen, und im schlimmsten Fall hatte er sie da zumindest gegrüßt, und sie waren auf seinen Gruß eingegangen. In dieser Stunde jedoch schaffte er vor ihnen nicht einmal ein inneres Grüßen, obwohl er nach außen so tat und den Kopf senkte. Statt dessen überlegte er, daß es an der Zeit wäre, die von dem nachtlangen Weg schlammigen Gehstiefel zu putzen, daß er möglichst bald einen Geldautomaten finden mußte, daß ihm, nach dem Treffen der Lärmgeschädigten und dem der Maultrommler vor seiner Rückkehr an die Morawa – »ah, wäre ich nur schon dort« – noch ein drittes Treffen bevorstand, daß …
    Gewärtig von dem Grab wurden ihm nur die verblaßte Schrift, ein, zwei fehlende Buchstaben und ganze Namen, die von dem aufgewucherten Buchsbaum davor überhaupt verdeckt wurden. Und von jeder Kleinigkeit wurde er abgelenkt: von dem Geräusch des in einer Friedhofsecke aufgedrehten Wasserhahns, von einem Kondensstreifen am Himmel, von einem Maulwurfshügel. Zuletzt aß er vor dem Muttergrab ein paar zuvor gesammelte Brombeeren.
    Nichts Kleines, was dann die alte Frau unternahm, die, wie aus der dicken Wehrmauer selber, aus dem Mesnerhaus getreten war – also war dieses doch nicht völlig verlassen? Mit ihr ein kesselgroßer, offenbar bis obenhin gefüllter Wassereimer. Den schleppte sie nun mit beiden Händen in die Kreuz und in die Quer durch die Gräberreihen. Und vor jeder einzelnen Grabstätte stellte sie ihn ab und besprengte sie mithilfe eines Buchsbaumbüschels, ebenso die aufgelassenen Gräber und die Leerflächen zwischen den Gräbern. Das Gleiche geschah vor den Tafeln der Selbstmörder in der einen Ecke des Friedhofs, wo die Erde nicht geweiht war. Bald konnte sie den Eimer mit der einen Hand tragen. Und sowie sie innehielt vor der Grabstätte seiner Vorfahren und auf diese das Weihwasser herabsprühen ließ, grüßte sie ihn als das Nachbarskind, das seinerzeit auf dem Heimweg von der Schule fast täglich ihr Haus – wie alle Dorfhäuser war das nie abgesperrt – betreten hatte, während sie mit den anderen Bewohnern auf den Feldern arbeitete, und in der Wohnstube alles las, was nur irgend zu lesen war, die Zeitung, den Bauernkalender, die Heilige Schrift, die Westernhefte, und sooft sie dann zurückkamen vom Acker oder von sonstwo, saß er in der Stube der Nachbarn am fremden Tisch, so in die Lektüre, gleichwelche, vertieft, daß er bei ihrem Eintreten nicht einmal aufschaute, geschweige denn ihnen Guten Tag sagte.
    Er erkannte sie nicht, so wie er bis jetzt in seinem Kindheitsort noch niemanden erkannt hatte (und auch von niemand erkannt worden war), als gehöre solches Nichterkennen zu der Stunde seines Wahnsinns. Ablenken, überspielen: und so brachte der vom Wahnsinn befallene Wanderer die Rede auf das, was die in eine Mesnerin verwandelte ehemalige Nachbarin da vor den Gräbern tat. Das wäre gar nicht nötig gewesen. Wie von selber, während sie schon das Nebengrab mit dem geweihten Wasser bedachte, kam es aus ihr heraus: Die Toten brauchten das, erwarteten das, lechzten geradezu nach den paar Tropfen, und zwar täglich, und täglich, aufgefordert nicht vom Ortspriester, von dem schon gar nicht, sondern allein von den Toten, machte sie so ihre Runde.
    Als sie verschwunden war, zurück in das Mauerhaus, glaubte er sich von dem Wahnsinn erlöst. Wahn: Schon in dem Moment des Ausbruchs am Ende der Alten Straße hatte ein Teil von ihm klar gewußt, daß das, was der andere Teil von ihm verübte, eine Wahnsinnstat war: die er da niedertrampelte, war ganz und gar nicht die, die ihm vorgegaukelt wurde. Es handelte sich nicht um die Frau, welche ihm lebenslang nachstellte, vielmehr war das die Frau seines Lebens. Aber umso blinder wurde der andere Teil seiner selbst vor dieser Gewißheit, umso wahnsinniger, und umso besinnungsloser schlug er zu. Und jetzt, auf dem Friedhof, allein? Wie hatte eben noch die alte Nachbarin von den Toten und dem täglichen Wasser gesagt? Sie

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