Die morawische Nacht
mitgebrachten Speisen, darunter auch die eine und andere verpönte, auf dem Tuch in ihrer Mitte. Von denen, die, unterwegs zu einem Spiel oder Fest, vorbeikamen, seltsamerweise kein scheeler Blick, auch nicht zur angeblich so unerwünschten urbalkanischen Musik, die einer der drei aus einem Miniaturrecorder ertönen ließ – eher ein kurzes Innehalten, Sichbesinnen, Geschmunzel, selbst vom Ordnungshüter der Mitteldoline, der seine Runde machte.
Anders seltsam die Fische in dem künstlichen Dolinentümpel, in einem Wasser so ruhig und durchsichtig, als sei es gefroren. War es denn so kalt auf dem Boden der Doline? Aber als die drei sich nun erhoben, wehte sie von oben ein Sommerwind an, mit dem auch ein warmer Schwall von Heu- und Ährengeruch daherkam, wie eben im hohen Sommer. Ah, Sommer! Und ein Baum wuchs zu ihren Häupten, an dessen unterstem Ast eine sowohl lateinisch als auch kyrillisch beschriftete Schiffsglocke hing, verrostet, und ebenso verrostet, starr, auch der Klöppel.
War das doch nicht das letzte Mal hier im Karst? War das vielleicht immer noch das alte Karstweltreich, unabhängig und frei wie kein Weltreich sonst, verbündet mit niemandem als mit sich selbst? Würden sie sich doch noch dereinst alle wiedersehen, die Wahnsinnigen nicht mehr wahnsinnig, und die Toten nicht mehr so tot? Und wie auf ein Zeichen bliesen die drei Übriggebliebenen aus Leibeskräften den an seine Halterung gerosteten Klöppel an – ohne ihn freilich zum Schwingen oder gar zum Klingen zu bringen, auch nicht der Ehedem-Autor, dem man doch einmal den epischen Atem nachgesagt hatte … Aber sie würden es zumindest versucht haben. Und als sie sich zuletzt, nach einem gemeinsamen Versuch, von der Glocke abwendeten, hörten sie in ihrem Rücken doch noch etwas wie einen Klang, eher ein klägliches Bimmeln, oder ein bloßes Rascheln, wohl nur in der Einbildung? Nur?
11
Endlich dann zurück auf dem Balkan, der diesen Namen verdiente. Mochte er auch für die große Mehrheit ein Schimpfwort sein: für ihn, und ebenso für uns, seine Zuhörer in der Morawischen Nacht, war er etwas anderes. Wo hatte er begonnen, sein und unser Balkan? Schon lange vor der geographischen und morphologischen Grenzlinie. Balkan, das war zum Beispiel augenblicksweise die Steppe um das verschwundene Numancia in Altkastilien gewesen, als dort ein zerrissener blauweißer Plastiksack an einer Blaudistel hing und im Wind knisterte. Balkan: die getigerte Falkenfeder neben dem toten Rehbock, der sich bei dem Sturz von einem Kalkfelsen das Genick gebrochen hatte, im deutschen Harz. Die Pfahlhäuser an der Donau östlich von Wien, mit den im Leeren aufgehängten Reusen und dem Gerümpel unter den Häusern in dem Geviert der Pfähle, die ausgedienten Kühlschränke, Gasflaschen, Autoreifen: Balkan. Der Holz- und Kohlenrauch aus dem Rauchfang des Maultrommlerwirtshauses und die Äpfel dort zwischen den doppelten bodennahen Fenstern. Der Sägebock neben dem Großvater- und Bruderhaus, umgekippt, halbbegraben zwischen Getränkekisten, Steinhaufen, Teerpappe, Kohlstrünken, vertrockneten und neu austreibenden Zwiebeln. Das Tuten eines Zuges, von sehr weitem voraushallend in einer Karstschlucht. Die Schmetterlingspaare in der Sonne, wie sie einander wo auch immer auf der Reise durch Europa auf engstem Raum umtanzten, kaum mehr als daumennagelgroß, rotbraun, mit dem Muster eines orientalischen Teppichs aus Kreisen und Dreiecken auf den Flügeln, und die jeweils als drei, wenn nicht mehr erschienen: all das war schon im voraus der Balkan.
Einsprengsel waren das gewesen in der Zeit und in den Räumen, Vorwegnahmen, Inselchen, Inselmomente. Jetzt jedoch setzte er den Fuß auf das balkanische Festland, auf die terra firma , fern von jeder Art Küste und Meer. Zurück auch im Binnenland, durchströmt von Flüssen, alle bestimmt für die Donau und das Schwarze Meer. Stehendes Wasser? Kaum eins. Und all die Einbäume auf den Flüssen.
Weiter zu Fuß ging er, flußab und stromab, südostwärts querfeldein, querwaldein, über Stock und Stein, durch die pannonische Tiefebene, über den einen in ihr aufgebuckelten, zweitagesweglangen Hügelrücken namens Fruška Gora und von dort hinab im Zickzack zwischen den Klöstern des Südhangs und auf die Weiße Stadt zu, oder eher auf den zentralbalkanischen Busbahnhof im Zwickel der Savemündung in die Donau, von wo die Busse in jede gewünschte Richtung fuhren, immer noch, und so auch heim in die Enklave von Porodin, an die
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