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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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auch der Ort selber hatte jeweils zumindest den Anschein eines Verstecks, ein Erdkeller, eine Felshöhle, eine Ruine; und einmal hatten sie sich sogar getroffen auf dem Boden einer ausgetrockneten Zisterne, wohl in Gedanken an die Widerstandskämpfer, die in solchen Schächten vorzeiten (oder erst unlängst?) ihre Untergrundsender installiert hatten.
    Diese Konferenz jetzt sollte wirklich die allerallerallerletzte sein – was sie dann auch wurde. Und sie fand statt in einer Doline, einer kreisrunden tiefen Grube, im Karst. Wie, noch einmal eine Doline in deiner Geschichte? Noch einmal der Karst? Ja, aber das war in unserem eigenen Land, und außerdem war die Doline ein Feld, ein Garten, eine Hürde, ein Stall, ein Sportplatz, ein Tanzboden, ein Backofen, eine Rotkreuzstelle, ein Fischteich. So groß war sie? So groß. Und so ausgebaut und bearbeitet, eine Delana Dolina ? Ja, eine Doline in dem Karst oberhalb von Triest, von dem jeder Karst der Welt, auch der von Yucatan und den Minas Geráis seinen Namen hat – die Mutter aller Karste. Und trotzdem geheim dort in der Delana Dolina? Trotzdem geheim.
    Schon lange war der Wanderer nicht mehr im Karst gewesen. Ohne die »Konferenz« wäre er wohl auch kaum mehr hingegangen; der Ort hatte seine Zeit gehabt. Und zudem hatte er sich entschieden verändert. Zwar war noch alles da, was seine Einmaligkeit ausmachte: der Aufwind unten vom Meer, der unvergleichlich sanft über die Hochfläche fächelte; der große Himmel; das Himmelslicht, weitergegeben auf dem Erdboden von dem löchrigen Karstkalkstein, in Gestalt der dörflichen Anwesen, der in die Wildnis führenden Feldmauern oder der aus dem Untergrund gewitterten Felsenäcker; die Stille, wie sie nur wirksam werden konnte in einer ausgegrenzten Sphäre; die weit auseinanderliegenden Dörfer, einander den Blicken entzogen, nur zu erkennen in den Nächten, und dann auch nur, wenn eine Wolkendecke, eine niedrige, über dem Plateau lag, an dem Widerschein, einem in der Regel runden, da und dort unten an den Wolken; und eben die Dolinen. Aber die Stille des Karstes war nicht mehr das allein ihn Bestimmende, und die von dem umgebenden Land wie auch vom Meer ausgegrenzte Sphäre galt höchstens noch für Momente, unter vielen anderen, entgegengesetzten. Mag sein, daß der Karst auch schon vorher ein Gebiet ziemlich mitten in Europa gewesen war. Inzwischen freilich war er erklärtermaßen ein Bestandteil von etwas, zuerst eines Gefühls, dann einer Vorstellung, dann einer Idee, zuguterletzt einer Norm, die »Mitteleuropa« hieß, nicht wahr? Diese Norm war im Lauf der Zeit die herrschende geworden – na ja, mehr oder weniger, doch eher mehr als weniger –, und dieser herrschenden Norm gemäß gehörte der Karst ohne irgendwelche Sonderstellung wie das ihn umgebende ganze Land zur Einheit Mitteleuropa, oder wozu denn sonst? Vielleicht gar zum gottverdammten Balkan, wie nach einer früher vorherrschenden Norm? Die neueingeführte Norm »Mitteleuropa« war im Karst jedenfalls kaum weniger mächtig; allgegenwärtig allein schon in der Sprache. So viel »Mitte« war in der Gegend nie gewesen. Ein »Mittelfest« folgte auf das andere. Der kleine Hauptort des Karstes wurde umbenannt in, übersetzt, »Mittel-Stadt«, und eine Reihe von Dörfern ließen sich umtaufen in, übersetzt, »Mitteldorf Eins«, »Mitteldorf Zwei«, undsofort, sowie viele der alten Feldwege umgewandelt waren in ausgeschilderte Wanderwege, Teil des »Großen Mitteleuropäischen Wanderwegnetzes vom Böhmerwald bis nach Dubrovnik«, als »Mittelweg Rot«, »Mittelweg Blau«, »Mittelweg Schwarzweiß« undsoweiter, eingezeichnet in die »alleingültige, auf den neuesten Stand gebrachte Wanderwegkarte Mitteleuropas«.
    Und so waren auch die Dolinen des Karstes zu »mitteleuropäischen Naturdenkmälern« erklärt worden, und die größte und schönste unter ihnen, eben die Delana Dolina, , nah einem der Mitteldörfer, hatte den Status eines Nationalheiligtums Mitteleuropas bekommen, eines »Heiligtums der Mitteleuropäischen Nation«. Nicht allein dort unten, in der ausgedehnten Erdschüssel – im ganzen Karst und seinem Umland war alles Balkanische oder auch nur von ferne daran Erinnernde verfemt, von den Speisen über die Kleidung bis zur Musik (die besonders, nur mitteleuropäische Weisen und Instrumente hatten zu erklingen, am besten Wiener Walzer, und die Radiostationen von Mitteldorf zu Mitteldorf gaben tagtäglich den Ton vor). In der »Mitteldoline«, wie

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