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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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die Delana Dolina nun offiziell hieß, herrschte die Mitteleuroparegelung jedoch besonders strikt. Undenkbar da das Erschallen einer Balkanklarinette oder -trompete, das Braten eines Lamms am Spieß (von einem Spanferkel zu schweigen), das Verzehren von rohen Zwiebeln. Tag und Nacht fanden auf dem Grund und an den Hängen der Karstschüssel Mittelfestivals, feierliche Mittelmessen, Lesungen mitteleuropäischer Autoren, Turniere mitteleuropäischer Mannschaften, Mitteleuropa-Kongresse statt.
    Der »Konferenz« schadete das allerdings nicht. Gerade in dem ständigen Jahrmarkttrubel, mit einander jagenden öffentlichen Veranstaltungen, konnten die paar ihrer Heimlichkeit leben, von niemandem beobachtet (was nicht so ganz stimmte). Sie waren ohnedies nur noch drei – drei Versprengte, die schon im Moment des Wiedersehens unten in einem stillen Winkel, den gab es noch, der Doline ihre letzte Konferenz und den Abschied für immer vorausahnten. So erzählten sie dann, während sie am Ufer des künstlichen Teichs saßen – die Dolinen waren ja, wie der ganze Karst, sonst wasserdurchlässig – und hinauf zu dem runden Schüsselhorizont schauten, einander vor allem von denen, die nicht mehr hatten kommen können. Ein Mann und eine Frau, er aus Frankreich, sie aus Spanien, waren das Paradepaar der Gruppe gewesen. Sie hatten sich kennengelernt während der balkanischen Entzweiungskriege und waren so zu einem Paar geworden, beide auch über Jahre Helfer der betroffenen Völker, welche alle, so sagten sie immer wieder mit einer Stimme, »mit nackten Füßen über Dornen gegangen sind«. Nach dem, was diese zwei miteinander erlebt hatten, konnten sie doch nur ewig zusammenbleiben? Und nun wurde erzählt: die Frau hatte den Mann verlassen, es war ihr vorgekommen, es nur noch mit einem »kalten Kadaver« zu tun zu haben, worauf der Mann ihr nach sei und sie und sich erschoß. Ein anderer hatte sich eingebildet, der Hauptschuldige am Zerschlagen oder Auseinanderfallen des großen Landes sei ein buddhistischer Kleinstaat auf einer Südseeinsel gewesen, und so begab er sich dorthin und sprengte sich und das einstöckige mehr Verwaltungs- als Regierungsgebäude in einem Selbstmordattentat in die Luft. Und noch einer bewegte sich monatelang kreuz und quer durch das Ex-Land, von einer der Heldenstatuen aus dem Zweiten Weltkrieg zur nächsten – es waren nicht mehr gar viele übrig –, und forderte sie lauthals auf, das Land wieder herzustellen, bis er eines Nachts, als er im Park des Kalemegdan von Belgrad zwischen den Heroenskulpturen hin- und herlief, und vor ihnen auf die Knie fiel, sie umarmte und bestürmte, abtransportiert wurde in eine geschlossene Anstalt, aus welcher jemals herauszukommen kein Schimmer einer Hoffnung für ihn bestand. Das alles war längst zu lesen gewesen in den Zeitungen, aber keiner der drei informierte sich anscheinend aus Zeitungen?
    Wer waren die beiden anderen, mit ihm, dem Ex-Autor, die Überbleibsel der Minderheit der Minderheit? Der eine war der ehemalige Justizminister eines nicht nur sehr großen, sondern auch übermächtigen Landes. Er war nun ein alter Mann und längst außer Dienst. Seine Hauptbeschäftigung war es, durch die Welt zu reisen und die Sache der Verlierer zu vertreten, in einer Mission, die er sich selber gegeben hatte. Ohne vor den Gerichten, den nationalen wie den internationalen, zu plädieren – nicht einmal als Zeuge wurde er zugelassen –, sah er sich als der Anwalt, der er in seinen Anfängen gewesen war, und trat im Umkreis der Tribunale, fast unbeachtet oder höchstens belächelt, auch als solcher auf. Er dachte sich in der Nachfolge des Strafverteidigers Abraham Lincoln, und schaute diesem auch mehr und mehr ähnlich, vor allem mit den buschigen Augenbrauen und den tief in den Höhlen liegenden Augen. Aber war Lincoln auch so schmächtig gewesen? Und sicher hatte der weniger klapprig gewirkt, schon weil er lang nicht so alt geworden war. Möglich, daß auch Lincoln so dünne Beine gehabt hatte – nur hatten die nicht in Jeans gesteckt, solchen, mit denen der frühere Minister unermüdlich von Kontinent zu Kontinent reiste. Nie hatte der Wanderer ihn anders gesehen als in Stiefeln, einem großkarierten Hemd und den immergleichen Blue Jeans. Auf der Straße konnte man ihn für einen altgewordenen Vagabunden halten. Dazu paßte, daß er immer allein daherkam und sein Gepäck jeweils nicht mehr als ein Bündel war. Auch auf den »Konferenzen« oder als Mitglied einer

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