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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Unstatthafte. Aber damals genoß er das Hin und Her. Die Süße und, ja, die Erhobenheit, sich eins mit dem Körper der anderen zu fühlen, geschah im Wechselspiel mit den Stunden allein an dem Tisch, wo Wort für Wort von ihm etwas gefordert wurde, was er bloß ahnte, aber, gleich schon, und dann immer wieder, und dann täglich, erlebte vor dem Hintergrund einer klaren, spürbar gnadenlosen Bedrohung. Beides, gerade in seiner Unvereinbarkeit, gab ihm erstmals etwas wie ein Ganzheits-, ein Lebensgefühl. In späteren Jahren wurde das anders. An dem Zwiespalt, als Beruf den des Schreibers, oder Aufschreibers, auszuüben, ausüben zu sollen, und andererseits Liebhaber oder Geliebter zu sein, war dann nichts mehr zu genießen. Es war eine Schuld. Es war die Schuld. Beides zusammen, das war die Strafwürdigkeit. Entweder-Oder.
    Der abgedankte Schreiber erhob sich und ging auf dem ehemaligen Dorf- und Schreibplatz, oder wozu er eben die Leere bestimmt hatte, auf und ab, dann im Kreis. (»Wo hast du deinen Koffer gelassen?« unterbrach ihn der Vorlaute von uns. – »Im Hotel Cordura«, so seine Antwort.) Nie hatte er sich zum Schreiben bestimmt gewußt, und vor dem Sommer damals schon gar nicht. Wenn Bestimmung, so mußte diese von ihm kommen, von ihm allein. Er selber hatte zu versuchen, sich zu bestimmen, und, das immerhin erschien ihm als eine Spur, als die bis dahin in seinem Leben einzige Spur, das immerhin spürte er schon im Abschied von der Kindheit seinerzeit: diese Eigenbestimmung konnte, möglicherweise, durch das Schreiben geschehen.
    Der Ehemalige ging weiter, auf und ab, im Kreis, mit der Zeit auch rückwärts. Das Plätschern des Adriatischen Meeres. Das Vorherrschen des Inselwinds. Die Vordämmerung. Schreiben? Was hatte ihm das einmal bedeutet? Vor allem wohl ein Entkommen.
    Entkommen wem? Der sogenannten Realität? Dem Realitätszwang? Der Welt? Den Forderungen der Welt? Nein. Oder, ja: Wenn das Mundaufmachen, das Redenmüssen, das »So sag doch! Sprich!« solch eine Forderung der Welt ist, so trieb es ihn, derselben zu entkommen, und nicht auf dem Weg etwa des Verstummens, sondern eben des Aufschreibens. Er, der dann in der Morawischen Nacht nur noch redete und redete, hatte Jahrzehnte zuvor das Aufschreiben gesucht, um die vermaledeite Mündlichkeit zu vermeiden. Vermaledeit? Für ihn jedenfalls, jedenfalls in seinen frühen Jahren. Dabei stammte er, der Dörfler, doch aus einer Gegend und auch aus einer Sippe, wo fast ausschließlich das Mündliche galt, und wenn einmal das Schriftliche, dann begleitet vom Argwohn des Obrigkeitlichen, oder Offiziellen, oder es äußerte sich hauptsächlich in Zahlen, Zusammenrechnen. Man brauchte freilich gar nicht über ihn und seine Person hinauszugehen: Es war seine höchstpersönliche Mündlichkeit, die er damals loswerden wollte. Es war die eigene Stimme. Nicht nur, daß diese den anderen in der Regel zu leise war – »Lauter, bitte!« –: Er selber wollte seine Stimme nicht hören, und nicht nur, weil sie etwa so leise, oder dünn, oder zittrig war: Es genügte schlicht, daß er sich sprechen hörte, und er wollte nicht weitersprechen – es widerstrebte ihm zuinnerst, sich selber sprechen zu hören, und in seinen Anfängen, und nicht allein da, kam ihm beim Reden, sogar in den Selbstgesprächen, auch ständig die eigene Stimme dazwischen. Beim Schreiben dann aber: ah, welche Selbstvergessenheit, zumindest für eine oft nicht so kurze Dauer. Ach, das vermaledeite Echo des Redens. Ah, das Echo des Schreibens. (Dabei redete er doch in unsrer Morawischen Nacht anscheinend völlig selbstvergessen, und wir anderen vergaßen mit ihm, daß er es war, der da sprach – vergaßen zeitweise, daß da überhaupt eine Stimme sich hören ließ.)
    Seine Hausleute seinerzeit in dem Inseldorf hatten vielleicht noch nie ein Buch gelesen. Zumindest ließ sich dort keines sehen, nicht einmal eines über den Fischfang. Gewiß aber war, daß sie es noch nie mit einem Autor zu tun bekommen hatten, dazu einem wie ihm, der vor ihren Augen, und dazu draußen im Freien, wo auch sie ja tätig waren, an einem Buch schrieb. Zuerst belachten sie ihn, freundlich, dann bestaunten sie ihn, und am Ende des Sommers kamen gar ausdrückliche Worte der Achtung für sein Tun, wohl auch wegen seiner der ihren entsprechenden Stetigkeit und dem Sich-um-keinen-Preis-stören-Lassen, weder von Geräuschen – Radios, Traktoren – noch von Gerüchen, unter einer Sonne, vor der zu gewissen Tageszeiten kein

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