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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Kein Bollwerk gegen die oder die war die Inselkirche, waren die Inselkirchen, keine Außenposten eines alleinseligmachenden Christentums. Auch wenn die Kirchentür während der Messe geschlossen blieb, fühlte man sich da zunehmend im Freien, und trotz des andauernden Winters war es, als begleite die Zeremonie, als deren tönende Tangente, ein Schwalbenschriller. Dazu paßte, daß man ihm, dem Orts- und Landesfremden, gleich vor dem »Introibo ad altare Dei« antrug, mitzutun und die Lesung, an dem Abend aus den Psalmen, zu bestreiten, und daß er, der nicht erst seit gestern jeder Art von Öffentlichkeit aus dem Weg ging, selbstverständlich Ja sagte, mochte auch seine andere Aussprache der Silben sein Herkommen von jenseits der Grenze verraten. »Warum der Tumult zwischen den Völkern?« War das also doch noch Dalmatien?
    Nacht. Der Inselkorso, mangels einer regelrechten Hauptstraße im Kreis um den Hafenplatz herum. Ein wie vollzähliges Gehen, Gehen, Gehen. Ohne die Abfolge der Worte, Bilder und Aktionen vorhin in der Kirche, ohne die Sätze des Evangeliums, das Kniebeugen bei der Wandlung, die Prozession vorn zur gemeinsamen Kommunion: hätte diese Bewegung ebenso harmonisch, plastisch, einladend, miteinbeziehend gewirkt? Wäre ein ähnlicher Eindruck einer einmal ganz absichtlosen, einmal nichts als friedfertigen Vollzähligkeit entstanden? Klar, daß das alles Täuschung war – die Messe als ein anderes Kino. Aber eine Zeitlang verhalf diese Art Kino zum Wohlgefallen; »zählt mich dazu«. Mit dem und jenem der Kirchgänger da und dort im Gasthaus, die tranken, was es eben zu trinken gab, und dabei, eine Zeitlang, die Kirchgänger blieben, und er selbst mit ihnen.
    So war man nicht überrascht, und schon gar nicht enttäuscht, als es mit der Harmonie plötzlich vorbei war. Und in diesem »Plötzlich« brach auch wieder etwas von jenem Balkan über die Mole herein, von welchem die Inselwelt sich doch, lang war das her, entschieden weggezählt hatte – wenn sie überhaupt je ein Teil gewesen war. Plötzlich wurde das gleichsam geballter Balkan, im jähen Gebrüll, Zuschlagen, Verfluchen, Bespucken, Zahnlückenzeigen. Aber daß als der Angebrüllte, undsoweiter, er, der unauffällig in dem Korso Mitgehende, sich erwies, das wurde dann doch eine Überraschung. Es war eine Überrumpelung; ein Überfall, für ihn wenigstens, während die anderen Kreisgänger das wohl anders, harmloser, sahen.
    Erst im nachhinein ging ihm auf, daß das Brüllen nicht bloß ein Aufschrei war, sondern auch seinen Namen, eine Silbe davon, artikulierte. Und den Stoß dann im Rücken, so heftig er war, hielt er zunächst für ein Mißgeschick, und als er sich, noch heftiger, wiederholte, für den Begrüßungsschlag, im Enthusiasmus bloß gar stark geraten, eines Freundes, eines von uns, der zufällig auch auf der Insel war und ihn in der Menge erkannt hatte. Aber als er sich zu dem vermeintlichen Freund umdrehte, bleckte ihn da ein zerlumptes Weib an, siehe ihre Zahnlücken, schoß ihren Speichel auf ihn und hob an zu einer balkanwürdigen Fluchlitanei: »Du Hund ohne Schwanz. Du Meerhund ohne Flossen. Du Sonnenanbeter in der Finsternis. Du Gottesanbeter mit den Plattfüßen. Du Schweißperle im leeren Grab. Der Zitronenfalter soll dich ficken. Die Feuerwanze soll dich ficken. Der Koch des Sultans soll dich ficken. Deine Mutter soll vom Birnbaum fallen, und nicht einmal, wenn du sie fickst, wirst du sie wieder zum Leben erwecken …«
    Jetzt erkannte er sie wieder, als die Bettlerin, die zuvor neben dem Kircheneingang gehockt hatte. Bei seiner Gabe hatte sie aufgeschaut, aber nicht zum Dank: sie wollte mehr. Und als er ihr noch einmal gab, verlangte sie wieder mehr, mit einer herrischen Handbewegung, wie einen Tribut. Der Platz neben der Inselkirche schien ihr Stammplatz zu sein; es war, als habe sie sich von da, unter dem Vordach, seit unerdenklichen Zeiten nicht mehr wegbewegt. Wie bei den Hauslosen in den großen Städten standen prallgestopfte Plastiksäcke um sie aufgetürmt, und der Gestank, der weit über diesen Umkreis hinausging, kam spürbar weniger da heraus als aus der halb Sitzenden, halb Liegenden selber, um die herum getrocknete und zum Teil auch noch nasse Pißrinnsale eine andre Pflastermalerei darstellten. Platt angeklatscht, wie in einer Fettschicht festgebacken, das farblose Haar, zur einen Seite kurz, kaum bis zu den Ohren, zur andern hüftlang, schwer, als hinge es in einem Netz. Das Gesicht inmitten dieser

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