Die morawische Nacht
einen Vorwand, im letzten oder vorletzten Moment aus der Zweisamkeit zu flüchten.
Auch bei dem Inselmädchen kam es vor, daß er sich aus dem Paarsein herausschwindeln wollte. Denn er mit ihr, das war, was ihn anging, in seinen Augen zwischendurch doch bloßes Getue. Zu solchem Reißausnehmenwollen paßte ja schon ihrer beider erstes Zusammentreffen. Er saß da am Abend in einer, hm, sporadischen Gesellschaft von Inseldörflern auf einer Rundbank um den Dorfmittebaum herum – so dick war der –, als plötzlich eine Hand sich in die seine schob. Und er? Er war mit seiner Hand, die, so dachte er später, ihn da als ganzen verkörperte, auf der Stelle zurückgezuckt, »nicht gerade wie von der Inseltarantel gestochen, aber doch beinah so!« Wem die andere Hand gehörte, das wußte er sofort, obwohl es dunkel war und das Mädchen von ihm abgekehrt auf der anderen Seite des Baumstamms saß. Ja, er war zurückgeschreckt, und fast zugleich, wie im Gegenzug, entfaltete sich in ihm etwas, das mehr war als er und ihn überstieg, allein schon in der Bewegungsart seinem Wegzucken widersprechend, eine so namen- und grenzenlose wie riesenhafte Beseligung, wozu er in der Nacht auf dem Boot ein Satzpaar Gustave Flauberts abwandelte – statt »Der Mond ging auf / Besänftigung zog in sein Herz«: »Sie wählte mich / Beseligung zog in sein Herz.« Er machte dementsprechend das Wegzucken rückgängig – es war noch Zeit, für dieses eine Mal – bei den weiteren Malen, da es ihm passierte, mit der einen Frau, und später auch mit anderen, nicht mehr. Sein Hin und Her wurde ihm nicht mehr vergeben, weder von diesen Lieben, noch von jener, seiner, so war es wohl gedacht, einzigen, die er so nicht selten betrogen, ja verraten hatte.
Inzwischen hatte er als Schreiber ausgespielt, fast – auch so ein Wort, das er in einem fort gebrauchte, ob es ihm nun unterlief, oder mit Vorbedacht –, fast mit Erleichterung. Seit längerem fühlte er sich fast befreit. Er mußte nicht mehr schwindeln, nicht mehr verraten. Er war aus dem Gesetz, dem furchtbaren, süßen, entlassen. Gut auch, daß es das Dorf von damals nicht mehr gab, kein Haus, keinen Baum. Ja, hatte er sich denn da eine Gedenktafel erhofft? Wie auch immer: Jetzt im Leeren dort auf und ab und im Kreis gehend (das Rückwärtsgehen hatte er sich bald untersagt), war sein einziger Gedanke: Schöne Leere – du meine Hinterlassenschaft. Und in der Folge überkam, nein, übermannte ihn, dort im Nichts und wieder Nichts, unvermittelt etwas, das ein anderes war als etwa Sehnsucht, oder Begehren, und das war, weit weg von allen den Wesen, ein Hunger, ein gewaltiger, der gleichzeitig ein Leibeshunger war und ein Lufthunger. Es packte ihn eine Art Schluckauf, der nicht und nicht ausbrach. Solchen Hunger, durfte er sich den jetzt erlauben? Fürs erste zog er sich aus und schwamm ins Meer hinaus, nicht so weit freilich wie damals zur Haifischzeit, leben, Leben. Worauf der von uns, welcher in jener Nacht auf der Morawa unseren Erzählerfreund zeitweise, sooft der seine persönliche Innenwelt wieder einmal als die allgemeingültige Außenwelt darstellte, unterbrach mit praktischen Fragen, dies tat mit: »War das Wasser denn nicht zu kalt? Bist du hoffentlich nicht auf einen Seeigel getreten? Und womit hast du dich dann abgetrocknet? Und wie bist du in die Stadt zurückgekommen?« Auch ohne Antwort: Diese Fragen störten niemanden. Sie gehörten dazu.
In Cordura-Stadt zurück, gleich wie. Abend. Zeit, wie damals, für das Kino. Nur gab es das nicht mehr, es war daraus eine Autowerkstatt geworden. Das Kassenhäuschen zur Straße hin stand freilich noch, samt Schalterluke und Drehschüssel für Geld und Eintrittskarte, neben dem offenen Werkstättentor; diente als Abstellraum, für Schmieröle, Farbtöpfe undsoweiter. Versuch, die Schüssel zu drehen: es ging, er legte eine Münze hinein und drehte zurück. Ruf zur Abendmesse von der alten Kirche oben, blechern die Glocke, klanglos wie ehedem. Die Messe dann erfrischend – so anders als damals –, und das entsprach seiner inzwischen fast langen Erfahrung mit Meßfeiern auf Inseln. Es war ihm, als wehe da, im Unterschied zum Festland, etwas Zusätzliches zwischen die Worte der Liturgie, und außerdem, auch das ein Unterschied: es müsse mit dem Gottesdienst auf der Insel nichts bewiesen werden. Es wurde dort kein besonderer Glaube gegen irgendwelche bösen Feinde oder feindliche Brüder verteidigt. Keine Grenzziehungen wurden finster gefeiert.
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