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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Laubschatten mehr schützte. Wenn von den verwesenden Fischköpfen und -därmen von Zeit zu Zeit eine Schwade herbeiwehte, hielt er sich das Taschentuch vor die Nase und tippte mit der freien Hand einfingrig weiter, und desgleichen, wenn gegen Abend die Rinder, vollgefressen von den Inselweiden, durch das Dorf heim zu den Ställen zogen, nicht wenige mit gewaltigen Blähungen, die sich, Schritt auf Schritt an ihm und dem Schreibtisch vorbei, in einem nichtendenwollenden Gefurze entluden, Schwade um Schwade eines Gestanks, bei dem er herausgefordert war, im Setzen der Wörter nur ja den Sinn für den Rhythmus, die Bilder, überhaupt, ja, das Gefühl nicht zu verlieren. Was für ein Ansinnen. Herrlicher Sommer.
    Ansinnen aber nicht nur von außen; auch von innen her – einem Innern, das etwas Grundanderes war als er und seine Person. Herausforderung? Forderung. Gebot. Gesetz. Großes Wort? Nein, das entsprechende. Indem er schrieb, und bei dem, was er schrieb, dem »Buch«, galt ein Gesetz. Das hatte bereits mit dem ersten Satz zu wirken begonnen, und seine Wirksamkeit wurde im Laufe der Schreibzeit umfassend. Und wie wirkte es? Als Begütigung, nein, als Versicherung, und andererseits, nein, widrigenfalls, als Bedrohung, nein, als Androhung. Und das Gesetz war ausschließlich. Es kannte weder Lücken noch Ausnahme. Und was drohte es ihm an? Eine Strafe? Welche? Die Androhung, umfassend wie sie war, blieb unbestimmt. Bestimmt aber war: Es würde, wieder widrigenfalls, ein Urteil geben, nein, eine Verurteilung. Und widrigenfalls hieß: falls er gegen das Gesetz verstieß. Und wie würde der Verstoß offenbar? Herrje, das würde dann schon zu merken sein, im selben Moment. Das würde ihm auf der Stelle eingebrannt. Und das würde in ihm weiterbrennen bis zum endgültigen Urteilsspruch.
    Dessen Androhung lebte in ihm auf bei dem scheinbar Kleinen, Geringfügigen: ein noch so flüchtiger Unwille über die Hitze, über einen Windstoß, der das Papier in der Schreibmaschine umschlug, so daß er den gerade fälligen Buchstaben auf die Blattrückseite tippte – und das ganze Unternehmen stand in Frage, und damit auch er selber. Alles, was mit Un- anfing, die leiseste Unlust, ein vages Unbehagen, eine augenblicks ihm entschlüpfende Unfreundlichkeit, genügte, und die unbestimmte Sanktion drohte, und wie. Besonders gefährlich die Ungeduld, nicht bloß im Tun, sondern auch vorher und nachher, beim Anstehen morgens in den Geschäften von Cordura-Stadt, beim Schlangestehen dort abends vor der Kinokasse. Und er war seit Anbeginn die verkörperte Ungeduld, stellte sich vor, schon als Säugling losgebrüllt zu haben, wenn ihm die Mutterbrust vielleicht einen Sekundenbruchteil zu spät gereicht wurde, oder auch schon, wenn die Sonne, nach der er ständig Ausschau hielt (so erzählte es jedenfalls seine Mutter), nicht endlich wieder zwischen den Wolken hervorkam. Die Ungeduld, oder, mit einem anderen Wort, die Unbeherrschtheit, sie war, bis zu den Monaten auf der Insel dort, sein größtes Übel. Sie war, bis zur Morawischen Nacht und wohl auch noch lang darüber hinaus, Teil seines Problems mit der Zeit. Wie würde er, der geradezu bösartig Ungeduldige – bösartig werdend in seiner Ungeduld –, jemals ein Buch schaffen, die Frucht der Ruhe im Verein mit der Geduld, die Frucht des Zeithabens, für ihn, das begann er da zu lernen, des höchsten der Gefühle? Gefährlicher Sommer. Abenteuerlicher Sommer.
    Wenn er ein Schreiber werden wollte, ein solcher wie der, dessen Spur er in sich, zumindest sporadisch – er gebrauchte gern dieses Wort, frei nach der Inselgruppe in der Ägäis –, angelegt dachte, oder tagträumte, so mußte er sich aus allem heraushalten. »Halt dich heraus!« hatte er sich schon in den Vorjahren immer wieder anbefohlen, sooft er, gedrängt weniger von Neugierde als von seiner Nichtzugehörigkeit, während des Studiums an irgendwelchen Versammlungen teilnahm, ob einer politischen oder sonst einer Partei. Auch Ausstellungen, Konzerte, Lesungen erschienen ihm als Parteiveranstaltungen, aus denen er sich herauszuhalten hatte – was er dann zeitweise doch nicht tat, »zu meiner Schande«. (Nicht Partei war er höchstens, wenn er ins Kino ging.) Und selbst mit einer »aus dem anderen Geschlecht« zusammen sah er sich als Partei. Und Teil einer Partei sein, das war nichts für ihn. Entweder hielt er schon die Verabredung nicht ein, oder hoffte dann inständig, die andere werde fernbleiben, oder fand jeweils

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