Die morawische Nacht
heimzog zu dem Boot an der Morawa. In der ersten Zeit, nach der langen gemeinsamen Busfahrt wieder allein, zählte er nicht nur die Tage, sondern auch die Stunden, und zwischendurch sogar die Minuten: ah, endlich wieder eine hinter mich gebracht. Die ersten paar Nächte glaubte er sich für Momente des halben Aufwachens weiterhin in seinem angestammten Bett und Schlafraum. Umso fremder dann die tatsächliche Umgebung, von Nacht zu Nacht eine andere, so fremd, daß sie nicht einmal zum Anstaunen war. Und mehr als bloß ein paar Nächte in solcher Art Fremde waren nötig, damit ihm das eigene Bett nicht mehr fehlte. Und erst nach mehreren Irrwegen und -fahrten war ihm eine jede Schlafstätte recht, wenn er sich nur irgendwo ausstrecken konnte. Und eine geraume Zeit mußte er unterwegs sein bis zu dem Augenblick, da er dachte: »Jetzt beginnt das Abenteuer!«
Noch lange bewegte sich der frühere Autor kreuz und quer durch den Balkan. Auch wenn es zwischendurch einmal geradeaus ging, war es, als irre er da im Kreis herum. Mitten im Vorfrühling brach der Winter herein, und von einem Tag zum andern wurde es hochsommerheiß, während über den verschneiten dinarischen Bergen ein Herbsthimmel blaute, und am selben Abend vielleicht wehte aus dem Osten ein Schneesturm, samt Blitz und Donner, heran.
Dann einmal lag der Balkan hinter ihm. Erleichterung. Was für eine Erleichterung. Aber woran zeigte sich, daß man heraus aus dem Balkan war? An der Meeresluft, an den ersten Büscheln des wilden Thymian, Rosmarin, an einem Lorbeerstrauch, einer ersten, noch einzelnen Palme, so wie es etwa Ivo Andrić von seinen Jugendfahrten aus den Kesseltälern des Landesinnern, weg von der gebirgskalten Drina an die Adria, in seiner Sprache den Jadran, erzählt hat? Ja, das auch. Jedoch stärker noch zeigte es sich an dem, was unversehens nicht mehr so vorherrschte, dann gar nicht mehr da – abwesend war, und das ausgelöst von dem fehlenden Bewußtsein davon. Nicht mehr auf, im Balkan: das kam aus dem Innern. Hinter diesen Kalkfelsen da würde keiner mehr hervorspringen mit einer Waffe im Anschlag. Kein Widder ohne Kopf würde verwesend am Wegrand liegen, daneben auf einen Zaunpfahl gesteckt der Kopf, abgerissen dem Tier bei lebendigem Leib mit den bloßen Händen, die Hörner dafür geradezu sorgsam abgesägt. Keine muslimischen Grabstelen stünden wie für immer verlassen in der Karstwildnis, das Zeichen des Halbmonds auf ihnen längst kein Zeichen mehr (oder doch?). Keine der ausgetrockneten Brunnenschächte, Felsspalten und sonstigen Abgründe unterwegs erinnerten mehr an die, aus solchem Balkanvolk oder aus solchem, die darin, in der Tiefe, vorzeiten während solcher und solcher Kriege ihre Sender installiert hatten oder von denen aus dem Gegenvolk da hineingestürzt worden waren. Oder es fänden auch bloß alle die scheelen Blicke nicht mehr statt, das Beiseitetreten, das ein Anrempeln vorbereitete, das allgemeine Ausspucken, das Nichtgrüßen, das Belachen der alten Frau, welcher der Sturm den Regenschirm zerbrach, das Kopfabwenden, sooft auch man alle die fremden Augen suchte. Weg vom vermaledeiten Balkan: frei die Augen, frei die Ohren, und die Nasen auf einmal Nüstern, ein einziges Aufatmen, als würden selbst die Poren, selbst die Mundhöhle zu Nüstern.
Dabei ging es zwar auf die Adria oder den Jadran zu, aber weniger west- als nordwärts. Ziel: jene Insel, auf der er, lang lang war das her, Versucht hatte, ein – er zögerte bei dem Wort – Buch zu schreiben, sein erstes. Und warum er so zögerte? Weil, antwortete er uns anderen, es sich inzwischen eingebürgert habe, »Buch« auch zu nennen, und zwar von den Schreibern selber, was erst auf dem Weg dahin sei – jedes Manu- oder Typoskript, jeder Computerausdruck werde gleich, und oft schon nach ein paar Seiten, als »mein Buch« im Mund herumgeführt und mit Deckblättern versehen, die von außen ein fertiges Buch vortäuschten. Nein, ein Buch sei ein Buch sei ein Buch, für ihn etwas nach wie vor Einmaliges, jedenfalls ganz Seltenes, Gewaltiges, Wundersames, sozusagen vom Himmel Gefallenes – nein, ohne »sozusagen«.
Jene Insel, von der er in der Nacht auf dem Morawa-Boot erzählte, hieß bei ihm Cordura, auch wenn sie in Wirklichkeit anders hieß. »Cordura«, so hatte er sie schon seinerzeit bei sich genannt, einen Wildwestfilm im Sinn, der, auf deutsch jedenfalls, betitelt war mit »Sie kamen bis Cordura«. Im übrigen gebrauchte er dann auch für die weiteren
Weitere Kostenlose Bücher