Die morawische Nacht
Stationen seiner Reise Ortsnamen, die nicht die angestammten waren, oder die Orte blieben überhaupt namenlos. Entweder entlieh er die Bezeichnungen von anderswo, ganz anderswo, oder er verballhornte, ob aus Mutwillen oder, noch öfter (schien uns), aus Zuneigung zu dem Ort, die vorhandenen. Fast durchwegs unbenamst dagegen, bis auf die schon erwähnten und bei uns eingeführten Filip Kobal und Gregor Keuschnig, die ihm begegnenden Personen. Sonst auch kein Vorname. Selbst sein Bruder hieß durchgehend nur »mein Bruder«. Die Namen täten nichts zur Sache, so sein ständiger Spruch, nicht nur in der fraglichen Nacht. Freilich kam gegen deren Ende doch noch ein Name, oder der unterlief ihm, der etwas zur Sache tat.
Nach Cordura brachte den abgedankten Autor ein Fährboot. In den Jahrzehnten nach seinem Buchschreibversuch war die Insel, die nah am Festland lag, mit diesem durch eine meilenlange Straßenbrücke verbunden worden. Aber die Brücke war an seinem Ankunftstag an der Küste aus irgendwelchen Gründen (»ratet einmal!«) gesperrt, und so verkehrte wieder die Fähre, die, so schien es ihm wenigstens, dieselbe wie die von damals war. Und derselbe Hund wie seinerzeit schnüffelte bei der Überfahrt an seinen Beinen, der zugleich derselbe war, der beim Aufbruch von Porodin als letztes Lebewesen hinter und neben dem Bus hergerannt war und nicht und nicht zurückbleiben hatte wollen. Und dieselben Brotkörbe wie damals stapelten sich und waren noch warm. Und derselbe Wind wehte, haargenau derselbe, nicht bloß der »gleiche«, und auch seine, des Ehemaligen Haare, fühlten sich in diesem Wind, obwohl über die Zeit um einiges dünner geworden, haargenau an als dieselben.
Er war seitdem nie mehr auf Cordura gewesen. Von der Fähre an Land getreten, erkannte er dort, lange nur still stehend und höchstens da und dorthin den Kopf wendend, rein gar nichts wieder. Dabei war doch in Wirklichkeit die Hafenmeisterei, ein jahrhundertealtes Gebäude aus Karstkalk auf einem Sockel von Marmor, offensichtlich dieselbe, so wie auch die Fischerboote so ziemlich dieselben waren, und desgleichen der, »sagen wir«, venezianische Kirchturm oben auf dem Felsgupf, samt dem entsprechenden Steinlöwen.
Einen Sommer lang war er fast allmorgendlich und -abendlich in die kleine Stadt aufgebrochen, erst zum Brot- und Obstkauf, danach fürs Herumsitzen oder fürs Kino, und jetzt, obwohl sich doch kaum etwas Grundsätzliches geändert hatte, war das ein unbekannter, ein wie nie betretener Ort geworden. War das überhaupt Cordura? War es tatsächlich hier in der Nähe gewesen, daß er, als sehr Junger, seinem Leben auf eigene Faust, nein, eigenhändig, eine Wende hatte geben wollen, auf Teufel oder wen auch immer komm heraus?
Es war Mitte Nachmittag, und trotzdem ging es hoch her in dem Hafen, der gleich hieß wie die Insel. Auf den Fischkuttern wurde der Fang aus den Netzen geklaubt und in Körbe sortiert. Die Zuschauer waren vor allem die Kinder auf dem Heimweg von der Schule. Keine Touristen. Entweder war es nicht die Jahreszeit, oder es kamen, im Gegensatz zu damals, überhaupt keine mehr? Die Einheimischen, von denen nicht wenige im Gehen die dünne Inselzeitung lasen, einer auch in einem Buch, sahen und erkannten einander aus den Augenwinkeln, und es geschah ein ständiges Grüßen im Vorübergehen, die einen laut, die andern mit einem bloßen Handheben. Im Freien vor einer Bar, nah am Wasser, eine Jukebox, stumm; nicht zu erkennen, ob sie von innen heraus so leuchtete oder von der tiefstehenden Sonne. Auch sie schien dieselbe wie damals, und doch blieb sie seltsam gegenstandslos, war jedenfalls nicht mehr der Gegenstand von früher. Gegenständlich fast allein die toten oder sterbenden Fische, und das Geräusch, mit dem sie auftrafen in den Sortierkörben, ein Klatschen, grundiert von dem Schnalzen der vielleicht noch einmal sich aufbäumenden Leiber, und ein Krachen im Behältnis für die Krusten- und Schalentiere, der Meeresspinnen, der Krabben, dazwischen dort das Gescharre der noch lebenden, und, fast unhörbar, in einem dritten Behälter das Schlackern des einen etwa noch lebenden Polypen in dem dichtgeringelten Lebloshaufen. Verglichen damit blieb selbst der Fisch-, Tang-, Meergeruch, den er dabei, kam ihm vor, ungleich kräftiger aufnahm als beim ersten Mal, Gegenstands-, nein, wesenlos. Bei allem Hochbetrieb wehte ihn von der Insel seines ersten Buchs eine leere Welt an, und diese Leere, statt ihn, wie sonst so oft,
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