Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
zusammenzubleiben und, in der Regel als Paar, in eine dritte, unbekannte Richtung zu ziehen – wenn es die überhaupt gab. Auch der Rundreisende und der ortsansässige Dichter taten sich fürs erste zusammen. Freilich rührten sie sich nicht von der Stelle, sondern behielten ihre Zimmer in dem Einödzentrum. (Der Zwischenfrager auf dem Boot: »War es denn gut geheizt? War noch was übrig zum Essen und Trinken? Was hat das Zimmer gekostet?«)
    Jetzt erst, allein mit ihm, nahm er den alten Bekannten allmählich wahr, wozu auch beitrug, daß die beiden taglang miteinander durch die Steppe wanderten, eine Art Rundgang, bei gegen Abend sich verengenden Spiralen, deren letzte sie in Serpentinen hinaufführte zur Kuppe, eingenommen von dem vorzeitlichen Numancia – die kargen Spuren davon unten im Museum von Neu-Numancia. Der Dichter – um dieses Wort nicht ständig verwenden zu müssen, nannte ihn der Erzähler in jener Nacht auf der Morawa »Juan Lagunas« – hatte in dem Vierteljahrhundert seit ihrer Begegnung in der Provinzhauptstadt sein Aussehen vollkommen beibehalten. Aber das war nicht, und war es auch damals nicht gewesen, das Aussehen eines Lebenden, jedenfalls nicht das eines sozusagen üblichen Lebenden oder Sterblichen. Es war, als habe er all die Zeit eingeschlossen in einen Glassarg verbracht, und das Jünglingshafte an ihm, schon damals in einer beständigen Scheintotenstarre, sei konserviert worden, samt der Bleichheit der, nein, nicht »pergamentenen« Haut (von dieser gleich später). Starr selbst, bis auf rare, kaum auszumachende Winzigmomente, auch das seit der Zeit tief im vergangenen Jahrhundert ganz unverändert, die Augen, schwarze, wie wimpern- und auch liderlose Glaskugeln, ein Schwarz ohne jemals einen Glanz oder ein Aufleuchten, ein Glas von einer Art, als würde sich darin nie etwas spiegeln können.
    Dabei wirkte er nach wie vor beispiellos gegenwärtig, und wie niemand anderer von den Begegnungen des Reisenden in Erwartung, in Erwartung eines Gegenübers. Und wenn ihm so eines, wie jetzt wieder, vor die Augen kam, in der geradezu fordernden Erwartung eines ausschließlich auf ihn, Juan Lagunas, bezogenen Rede-und-Antwortstehens. Und wortspielerisch, oft nah am Sentenziösen, wurde er, wenn er selber sprach, wie etwa in dem Satz, welchen er einem von der Tafelrunde mit auf den Weg gegeben hatte: »Es ist eine Zeit für die Stille, und es ist eine Zeit für den Lärm« – bei unbewegten Lippen allerdings unter den starren schwarzen Augen, so als komme diese Stimme aus dem Bauch einer Mumie, nein, aus keinem Bauch, aus keinem irgendwie Inneren, und aber ebenso aus keiner Luft – die gleiche stimmlose Stimme wie vor fünfundzwanzig und mehr Jahren.
    Damals war Juan Lagunas dem Noch-Autor, für die Wochen dessen Sitzens an einem anderen Buch, der einzige Umgang in Nueva Numancia gewesen. Der kaum erwachsene Dichter, einen Packen selbstgedruckter und -verlegter Broschüren unter dem Arm – auch das mit den Broschüren war beim alten geblieben hatte ihn auf offener Straße gestellt, und vor diesen Augen, von diesem Augenblick an, kam kein Ausweichen mehr in Frage, nicht für die folgende Stunde wenigstens, und im Lauf des Monats noch für die eine und die andere. Sie trafen sich jeweils in einer der Bars um die Plaza Mayor, und anders als jetzt an dem Tag ihrer Steppenwanderung, da taglang allein der Dichter sprach, wollte der seinerzeit von dem anderen noch einiges – dem Gefragten kam vor, »alles« – wissen. Wie hieß dessen fernes Heimatdorf? Seine Mutter, war sie schön gewesen? Name und Wohnsitz der ersten Geliebten? Wieviel Prozente bekam er von einem verkauften Buch? War er wirklich verfolgt worden von einer Frau quer durch Amerika? Zypressen am Missouri, gab es die? Und sein Bruder, war der tatsächlich Sägearbeiter in Oregon gewesen? Und war er in Atlanta ernstlich Johnny Cash begegnet?
    Wenn dagegen Juan etwas gefragt wurde – wovon er lebe, was er vorhabe, ob er in Numancia bleiben wolle –, kam nie eine Antwort. Er war es, der fragte, so wie jetzt in der Savanne er allein es war, dem gleichsam das Wort erteilt war. Er verkörperte und vertrat ein Gesetz, dem der andere sich zu unterwerfen hatte. Der andere: das war, bei den paar Treffen einst, nicht nur er, der Ortsfremde. Ein-, zweimal vielleicht war noch ein Dritter, ein ebenso Junger, dabei, der freilich stumm blieb – unklar, ob er überhaupt zuhörte. Er hatte bloß so da zu sein, als Knappe, als Gefolge für Juan,

Weitere Kostenlose Bücher