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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Schmerzschweiß.
    Anders bemerkenswert, daß die Gesprächsrunde am Fuß des Hügels von Numancia, das wurde ihm mit den Tagen dann klar, weniger unter dem Lärm und Gepolter litt, als unter den Geräuschen, die früher einmal zusammengedacht worden waren mit Friedlichkeit, mit Begütigung, mit Heilkraft, mit Brusterweiterung. Was sie in der Kindheit und auch noch lange danach eigens hören gingen und wobei sie sich, so scheinbar abseits das auch war, mitten im Weltgeschehen wußten, das vertrugen sie nicht mehr: das Rieseln des Wassers, das Rauschen des Windes und des Regens, das Knistern des fallenden Schnees in den Winterbüschen. Selbst die in der Stille aus ihren Erdlöchern zirpenden Grillen erlebten sie als eine Attacke der allgegenwärtigen feindseligen Jähheit (oder erlebten das Zirpen, harmloser, als Knarren der eigenen Knie), ebenso wie das einem üblichen Gehör längst nicht mehr wahrnehmbare Flappen von Schmetterlingsflügeln jetzt am rechten Ohr, jetzt am linken. Allein schon Wörter wie »Rieseln«, »Rauschen«, »Sausen«, »Rascheln«, und dergleichen bereiteten ihnen, einem jeden in seiner Sprache, »seelische Beschwerden«, und schon gar jenes »Säuseln«, aus dem vorzeiten, nachdem weder aus Donner noch aus Sturmtosen etwas herauszuhören gewesen war, angeblich die Stimme Gottes gesprochen hatte. Nicht bloß besonders seelenlos waren alle die einmal doch so zarten Geräusche auf die Kranken, sondern sie wirkten, statt wie früher lindernd, aktiv entseelend. Das Säuseln, ein solches und ein solches, es schnürte die Brust ab und verstärkte das Leiden, und anstelle der Heimlichkeit beim Aufschwirren eines Vogels oder beim Surren eines Fahrraddynamos allein auf der Landstraße in der Nacht: Unheimlichkeit. »Ah, alle die Geräusche der Heimlichkeit, wo sind sie geblieben?«
    Der ehemalige Schweigemönch fragte das, und er war es auch in der Runde, der wohl am meisten redete. Er hatte das Kartäuserkloster verlassen, weil er das Schweigen, das eigene und das der anderen, das gemeinsame Schweigen, nicht mehr ertrug. »Einmal war dort eine Fabrik der Stille gewesen, hatten dort die Bauten des Schweigens gestanden. Aber mit den Jahren wurde es ein falsches Schweigen, die falsche Stille. Wir hätten einander ja nicht unbedingt ständig in die Augen schauen sollen. Aber ich nahm mit der Zeit die neben mir in den Nachbarklausen oder draußen in den Fluren überhaupt nicht mehr wahr. Und wenn, dann als Hustende, als Gebetbankrücker, eben als Dahinschlurfer. Unsere Große Stille war ein Schwindel. Statt uns zu sammeln, hat sie uns, in meinen Ohren dann jedenfalls, entzweit. Statt mir zur Einkehr zu verhelfen, fand in ihr zuletzt nur noch ein herzloses Ohrenspitzen statt. Wir gaben dort der Welt draußen kein Beispiel. Mehr und mehr hätte ich jeden Maschinenlärm und jedes musikpochende vorbeiteufelnde Auto unserem pompösen, weder Gott noch sonst wem gefälligen Aneinandervorbeischweigen vorgezogen. Und wißt ihr, wo ich, in meiner Not, zeitweise doch der anderen, der immer noch ersehnten Stille, wie soll ich es sagen? teilhaftig geworden bin? Nein, weniger in der Küche, oder beim Brotbacken, oder im klösterlichen Gemüsegarten als, wie soll ich es sagen? auf dem stillen Ort, in den Klostertoiletten. Dort habe ich, nach dem Gottesdienst mit ewigen gregorianischen Gesängen, die mir schon zu beiden Ohren herausgekommen sind, regelmäßig aufgeatmet, und nur dort habe ich etwas von dem Veni, Creator Spiritus! gespürt. Ich freute mich jeweils auf die Woche, da ich Abortdienst hatte, und ich hätte nichts dagegen gehabt, bis zu meinem Ende sozusagen der Abortmönch zu sein. Das Rauschen dort war das alte Rauschen, so wie das Rieseln das Rieseln, und die Stille dort wahrhaft eine Große Stille. Hat mein Gehör mich zum Menschenfeind gemacht? Oder zum Weltliebhaber?«
    An dem Abschiedsabend luden die Geräusch-und-Lärm-Referenten auch die zwei, drei Hörer an ihre Tafel, freilich nicht zum Mitreden. Am Ende des letzten Tages sollte nur noch getafelt werden. Um die Speisen und Getränke hatte sich die in der Zwischenzeit eingespielte Runde selber gekümmert; der Gesprächsleiter hatte sich erübrigt und saß, seiner Rolle ledig und damit gar nicht unzufrieden, stumm mit dabei. Und wieder bemerkenswert für den einen Dazugeladenen und späteren Erzähler: wie diese Krachkranken den eigenen Krach, den sie beim Kochen und Auftischen veranstalteten, nicht nur zu dulden, sondern auch zu genießen schienen. Je

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