Die morawische Nacht
eingestimmt, noch so ein Tropfen, und in der Folge, im selben großen Abstand, noch so einer auftreffend, sagen wir, auf ein Holzscheit, auf die Kiesel in der Traufe, auf das Gehsteigpflaster, immer auf dieselbe Stelle, bis ich die Tropfen des Taus als ein Ticken hörte, ein regelmäßiges, einer unerhörten Uhr, die zugleich im inneren Ohr stimmhaft wurde. Und auf ähnliche Weise, damals zumindest, das Fensterlädenöffnen morgens im Umkreis als noch solche Urgeräusche. Ebenso das Vorbeiknattern und -rattern, dicht auf dicht, der Morgenzüge, der Morgenbusse. Ebenso die Torschreie aus der Ferne. Ebenso die Lust- oder Sonstwieschreie in den Nebenzimmern. Und natürlich die leibhaftigen Stimmen als Urgeräusche: Die Stimme meiner sterbenden Schwester im Telefon. Die Stimme der verlassenen Kinder in der Nacht (und auch bei Tage). Die Stimme der aus einem tiefen Schlaf geweckten Frau, wovon meine Liebe auflebte. Die Kleinkinderstimmen der im Schlaf redenden Greise. Urgeräusche, das hieß früher: Nachklänge, die für immer im Ohr bleiben würden – das versprachen sie wenigstens. Im Ohr? Nein, im Herzen, wo sie ursprünglich auch erklungen waren, entsprechend dem Urgeräusch noch vor allen Urgeräuschen – also doch die Einzahl! –, jener Stimme im Traum, die mich seinerzeit geweckt hat, wie ich weder vorher noch später je geweckt worden bin. Warst du es, der mich gerufen hat? Nein. Und du? Auch nicht. Aber es war doch ein Ruf. Sogar ein Raunen, das inzwischen, als Wort schon, verpönte, hörte ich zeitweise als solch eine Stimme, als eines der Urgeräusche, und desgleichen auch ein gewisses Wispern. Und ein gewisses Hämmern? Ja, das auch. Und das eine oder andere Dröhnen, Röhren, Brausen, Schrillen, Trommeln? Wie denn nicht – solange auf diese Weise etwas vonstatten ging, fabriziert wurde, weitergebracht, weiterbefördert wurde, und nicht die Geräusche vor allem um der Geräusche willen in Gang gesetzt wurden, ohne Frucht, ohne Produkt – in Gang gesetzt und auf der Stelle im Leeren laufen gelassen von Milliarden dabei vollkommen unschuldiger Lärmteufel, jeder zweite Hinterhof und Kleingarten erfüllt von einem Geheul und Getöse, gegen das selbst die stärksten Lärmschutzmauern nichts ausrichteten, im Vergleich mit denen der Werkkrach in den größten Fabrikshallen sich als Labsal, aus einer Oase der Ruhe, anhörte. Lärmteufel ihr, statt mit Bocksfüßen mit Stahlkappen an den Sohlen, und keine Ohren, die euch aus euerm Freizeitoverall spitzen, keine Spur von irgendwelchen Ohren. Ah, das eine Geräusch, der eine Ton, der alle die bösen stillte, indem er sie einschwingen ließe in sich, sie in sich einverwandelte, so daß sie hinter ihm daherzögen als eine Karawanenmusik. Ah, die Zeit, da mein Gehör ein Spielautomatengeräusch in den Gesang eines Pirols verwandeln konnte: Ah, die Zeit des verwandelnden Hörens. Nur daß der Fall längst wohl eher der umgekehrte ist: Der Schrei eines Eichelhähers ahmt, scheint es, das Zerreißen einer Alufolie nach. Aus dem Ruf einer Elster höre ich das Schluckauf meines betrunkenen Vaters heraus, und aus einem Amselträllern sein betretenes Gepfeife einen Tag später. Beim Spatzentschilpen greife ich zu meinem Telefon, oder ist es der Spatz, der mein Telefon nachmacht?, und das Falkenschreien, ahmt es das Trillern einer Schiedsrichterpfeife nach, oder bin ich es, der …? Flügelschlagen? Falltüraufstoßen. Und außerdem gibt es, vielleicht seit je, Geräusche, die keinerlei Urgeräusche werden verwandeln können – mit denen nie und nimmer etwas anzufangen sein wird. Ein Turnier kann dagegen? Unmöglich. Der Ferne Klang? Das Ferne Grollen. Wenn ein Turnierkampf, dann Lärm gegen Lärm, gegen ihren Lärm mit einem anderen, einem guten Lärm. Ja, den Lärm mit dem Lärm bekämpfen. Aber was wäre der? Und wie? Und wo? Die Muschel ans Ohr gehalten, und statt des angeblichen Meeresrauschens der Pfeifton im Schädelinnern. Einen anderen täglichen Lärm gib uns heute, und morgen. In dem gängigen Lärm habe ich die Seele fast verloren. Verderblich ja vor allem am Lärm, daß ich wider meine bessere Ahnung gezwungen bin, die Lärmer auf den Lärm zu reduzieren … Ein einziger lieber Laut, und meine Seele wird wieder gesund. Heimlichkeit: zeig mir den Ort, wo du verborgen bist.«
Am Morgen des folgenden Tages der allgemeine Aufbruch von Numancia. Aber längst nicht alle aus der Tafelrunde machten sich auf den Rückweg. Einige hatten offenbar über Nacht beschlossen,
Weitere Kostenlose Bücher