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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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lauter es zuging, desto fröhlicher wurden sie. Das Quietschen eines Messers beim Aufschneiden eines Weinkartons: laß es noch einmal quietschen. Je raumfüllender ein Maschinengeheul, desto stärker der Glanz in den Augen. Markerschütternd das Geräusch, als die Elektrosäge beim Zerlegen des gebratenen Lamms auf die Knochen traf: recht so. So beschwingt sie auch lärmten: etwas wie Musik war dabei keinmal herauszuhören. Jeder schlug Krach allein für sich – antwortete nicht etwa dem Krach des anderen. Zur Musik, und sei es noch so bedrängender, fehlte es an einem gemeinsamen Rhythmus. Und außerdem wären all den kleinen und größeren zeitgenössischen Maschinen, mit denen sie umsprangen, anders vielleicht als bei den Maschinen vor einem Jahrhundert, den Lokomotiven, den Dampfhämmern undsoweiter, beim besten Willen kein Beat oder Drive oder Wummern, oder wie auch immer man das nennen sollte, zu entlocken. Gleichwohl: eine Zeitlang schienen sie alle geeint in einem wie heimatlichen Lärm, in einer Art Lebenslärm. Lärmheimat gegen die Totenstille? Bruder Lärm? Den brüderlichen Lärm, den gab es.
    Das Krachschlagen war nur von kurzer Dauer. Im Lauf des Nachtmahls, wo anfangs noch die Zungen geschnalzt und die Gläser geklungen hatten, kam eine Stille auf, in der kaum mehr ein Schlürfen oder Schmatzen, geschweige denn – schon dem Indianer zuliebe – ein Gluckern sich vernehmen ließ. Es war, schien dem Hörer und mehr noch dem schwermütigen Dichter aus Nueva Numancia an seiner Seite, eine schwermütige Stille. Jeder der Tafelrunde würde am folgenden Tag, und ein jeder einzeln, zurückkehren müssen in eine lebensfeindliche Geräuschwelt, aus der es kein Entkommen gäbe. Sie würden heimkehren für ein langsames Zugrundegehen oder, wenn schon, für einen plötzlichen Amoklauf. Der Lärm hatte ein System, und war ein System, ein längst weltumspannendes, und die Inseln der Stille, da und dort, ob in Europa oder sonst wo, war nichts als Propaganda, oder ein Kaufangebot, eine Ware, oder ein Anreiz für einen Reiseprospekt. Und das Lärmsystem war unzerstörbar, und die einzig noch mögliche Gegengewalt gegen seine übermächtige Gewalt war eben das Amoklaufen, das »aus guten Gründen« überall in der Welt »in Blüte« war, nur daß alle die Amokläufer jeweils auf die Falschen losgingen – die »Richtigen« ließen sich nicht blicken, oder es gab sie überhaupt nicht, jedenfalls nicht in Fleisch und Blut. Nur solange sie gemeinsam aßen und tranken, waren sie in einer, wenn auch zittrigen, Sicherheit.
    Am Ende des Nachtmahls stieg wie aus dem Grunde der gemeinsamen stummen, geballten Schwermut, fern vom Amok, noch etwas Widerständisches auf, und machte sich Luft, worauf dann, eins nach dem andern, die Zeichen für ein Fest wurden, wenn dieses auch das eines Abschieds für immer war. Es begann damit, daß der Wandermusikant, oder wer immer, mit dem Messer gegen sein Glas schlug, vielleicht gar nicht absichtlich. Niemand erwartete eine Rede. Kein zusätzliches Verstummen in der ohnehin stummen Runde. Im Gegenteil: andere Töne und Klänge gaben zuerst sporadisch, dann in einer Folge, einer zunehmend beschleunigten, mit der Zeit auch synkopierten, gleichsam eine Antwort. Das führte schließlich dazu, daß einer, sagen wir, der Ex-Mönch, der ohnehin wie unwillkürlich aufgestanden war, in der Tat zu einer Rede ansetzte, die dann, sagen wir, von dem Schafhirten, aufgenommen und fortgeführt wurde, und so weiter, bis zuletzt ein jeder kurz das Wort ergriffen hatte, jeweils so im Einklang mit dem Vorredner, daß es bald nicht mehr zählte, wer da gerade sprach.
    Und diese gemeinsame Rede der Geräuschkrankenrunde, wobei dann auch der eine oder andere Gasthörer mittat, ging ungefähr so: »Ich glaube nicht an den Urknall. Hätte es ihn gegeben, so würde ich von ihm träumen. Wohl aber glaube ich an das Urgeräusch. Denn ich habe es geträumt. Nein, das ist gelogen. Denn geträumt habe ich die Urgeräusche in der Mehrzahl, jetzt das, und dann das. Ich habe sie nicht nur geträumt, sondern auch gehört am hellichten Tag, und wacher war ich vielleicht nie. Und gehört habe ich die Urgeräusche als Stimme. Ja, das Flappen eines Schmetterlingsflügels, auch wenn es inzwischen nichts mehr ist: Es hat mich einmal eingestimmt, es war einmal, immerhin. Oder, ja doch, das Klatschen dazumal jenes einen Tautropfens, Klatschen, das zugleich an der Hörgrenze geschah, und dann, im Abstand, ich einmal darauf

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