Die morawische Nacht
sowie er aber dann ihr, der lange einzigen Vertrauten, mit den Gedichten kam, von Anfang an eine gequälte Miene aufgesetzt und später, ohne sich irgend zu verstellen, überhaupt weggehört hatte? (»Nur keine Gedichtvorlesungen mehr. Auch ich selber habe, als Hörer, allen den Dichterlesungen abgeschworen, den schwer- wie den übermütigen, den letzteren ganz besonders.«)
Und auch sein Mitgeher in der Steppe hätte diese Fragen – auf die Juan Lagunas ohnedies keine Antwort erwartete – nicht beantworten können. Auch er, der Prosamann, war im Ungewissen über den heutigen Poetenberuf. Gewiß dafür war er sich, daß er in einer Periode seines Lebens bedürftig gewesen war nach dem Augenblick der Poesie, bedürftig wie nach nichts sonst. Es gab Gedichte, die, selber an den Rändern balancierend, mit versagender, nicht hörbar zu machender allein zu lesender Stimme, ohne Reim und ohne vorgestanzten Rhythmus, ihn von den eigenen Rändern oder Grenzen lautlos zurückgerufen hatten In die Mitte des Lebens – zurück zur Prosa – zum Prosaschreiben. »Wie das Malen, so die Poesie?« Für ihn dagegen galt seit damals: »Wie die Poesie, so die Prosa.« Und für ein einziges derartiges Gedicht hätte er auch jedem heutigen Poeten dessen wirkliche oder vermeintliche Amtsanmaßung nicht bloß nachgesehen. Und insofern könnte das Dichten, unabhängig, ob Beruf oder nicht, immer noch ein Amt sein?
»Einmal«, sagte Juan Lagunas dann, »hatten wir ein Vaterland: konnten wir benennen. Denn für alles gab es einen Namen, Namen für jeden Moment im Leben, auch für die Momente, die sich wiederholten. Die Mutter konnten wir benennen, und den Sohn. Gott, und diese Zeit ist vergangen, und nie wird sie wiederkehren, nie mehr werden wir die Tage, die Abend- und die Morgendämmerungen benennen können. Wir haben die Namen verloren, haben dieses Vaterland, haben jenes Dorf verloren. Leer ist unser Leben jetzt. Lebendig begraben sind wir, die Augen zum Himmel, den wir nicht mehr sehen können. Und nie mehr werden wir einer Frau begegnen und mit ihr über unser verlorenes Vaterland reden können. Bleibt nur, zu warten auf die Nächte und sich zu verabreden mit den Vorfahren. Wenn alle die Toten zu reden anfangen: da werden wir noch das Leben benennen können, tief in der Nacht das Gedicht wie eine Schlange, die überwintert und, die schrägen Augen fast geschlossen, den Frühling erwartet und die Sonne auf ihrer Haut.«
Und, sieh da, unvermittelt wechselte Juan den Tonfall zu Prosa. Und nur ein Dichter konnte auf solche Weise prosaisch werden. Und dabei bekam er auch eine Stimme, und was für eine, zwischen Schreien und Kreischen. »Ich bin ein Sozialfall. Jedes Jahr ein paar Wochen mehr in der geschlossenen Anstalt. Die einzige Frau im Leben ist meine Mutter gewesen. Nie habe ich mit einer Frau gevögelt.« (»Jodado!« brüllte er in seinem Spanisch.) »Ich hätte sogar mit einer Kuh vorlieb genommen. Mich in sie verlieben können wie, wenn ich mich recht erinnere, einer der durch die Bücher deines William Faulkner geisternden Schwachsinnigen. Mit meiner geliebten Vaca wäre ich Tage um Tage durch die Steppe gezogen und hätte sie von Zeit zu Zeit besprungen, Auge in Auge mit ihr, deren Kopf mit den blonden Kringeln über der Stirn mir still zugekehrt gewesen wäre, und in den langen extrastillen Kuhwimpern in keinem Moment auch nur ein kurzes Zucken. Und weißt du, was meine Mutter beim letzten Mal zum Anstaltschef gesagt hat? ›Behalten Sie ihn doch endlich, für immer!‹ Nicht einmal einen Knopf kann ich mir annähen. Nicht einmal die Schuhe kann ich mir selber putzen, geschweige denn mir etwas kochen. Nicht einmal die Hirtenkrümel, die migas del pastor ; die einstige Armenspeise der Gegend um mein Numancia, kann ich mir vom Tisch in meine hölzerne Poeten-, nein, Bettlerschale zusammenschaben. Kaiser, König, Edelmann; Bürger, Dichter, Bettelmann. Ich bettle heimlich gewisse Leute an, für die Kopie eines Gedichts. Und wenn mir dann einer was zusteckt, so nur, wenn er dafür nicht das Gedicht nehmen muß. Auch meine Mutter bettele ich vor meinem täglichen Ausgang jedesmal an. Wäre ich ohne sie nicht vollends verloren, hätte ich sie schon längst um die Ecke gebracht. Jeden Sonntagnachmittag lege ich ihr die Hände um den alten bösen Hals. Und jetzt liegt sie im Sterben, meine Mutter. Was wird aus mir werden? Vielleicht, wenn ich heute abend nachhause in den Sozialbau am Rand von Nueva Numancia komme, liegt sie schon
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