Die morawische Nacht
in dem Sarg, nach dem sie sich in meiner Gegenwart zeitweise laut gesehnt hat. Der Aufschlag eines Sargs auf die Erde ist etwas vollkommen Ernstes. Wird etwas vollkommen Ernstes sein.
Wird etwas vollkommen Ernstes gewesen sein. Und sie wird mir immerhin, so wie ich sie kenne, vor dem Sterben noch die Socken gestopft haben. Wird mir die Olla potrida , den Eintopf, für eine ganze Woche im voraus gekocht haben, bei kleiner Flamme. Wird mir den Anzug meines Vaters, aus englischem Kammgarn, aus der Gegend von Manchester, den Zweireiher, den breitgestreiften, mit den Perlmuttknöpfen und den besonders hohen Stulpen, wie sie jetzt wieder in Mode gekommen sind, gebügelt haben, mit dem auf dem Sparherd erwärmten schweren alten Eisen und einem feuchten Tuch, und die Bügelfalten, die scharfen, aber eben nicht messerscharfen, sie werden meine Mutter zuletzt den Tod, den des Vaters wie auch den eigenen, haben vergessen lassen. Ja, mein Gedicht lügt: Ich kann benennen, noch und noch. Aber was ich auch benennen und sagen kann: Ich bin nicht fähig, es zu tun. Und ich will es auch nicht tun. Es ist meine Sache, zu benennen, und nicht, danach zu handeln. Es ist nicht mein Amt, zu handeln. Ich bin ein Dichter, und es ist mein Amt, nicht zu handeln – nicht nur, auf keinen Fall ein Olympiasieger zu sein, sondern auch kein Koch, kein Weber, kein Nachtportier, kein Reiseleiter, kein Holz- oder Stahlarbeiter, kein Gärtner, kein Zuhälter, kein Waffenhändler, kein Baumwollpflücker, kein Pipelineleger, kein Wäschewäscher, kein Schuhbandeinfädler, kein Schlüsselzuschleifer, kein Eßtischschmirgler, kein Handelnder, auf keinen Fall.«
War es freilich nicht doch eine Art des Handelns, als Juan Lagunas dabei zuletzt auf seinen Begleiter losging und dem einen Fauststoß gegen die Brust versetzte, einen gar nicht sanften? Für den einen Moment war es, als verkörpere der andere da die wirklichen oder auch eingebildeten Widersacher und Verächter des Dichters in dessen Stammort, von Anfang an bis jetzt – nein, vor jeder Feindschaft und Mißachtung die, welche in seinen Augen falsch lebten und deren Lebensweise ihn auf eine Weise abstieß, die er für sein Dichteramt nicht brauchen konnte.
So tätlich wurde er, als die beiden Steppenwanderer am Ende des Tages oben auf dem Rundhügel des einstigen Numancia, des vorchristlichen, des kelto-iberischen, standen. Bei seinem ersten Aufenthalt in der Gegend hatte der damalige Prosa-Autor den Juan Lagunas jeweils nur in der Stadt, intra muros , getroffen. Über die Ränder hinaus war er immer allein gegangen. Beim zweiten Mal jetzt wurde es klar, daß der Dichter zu Fuß noch nie über seine Stadt hinausgekommen war. Der Steppenboden unter den Sohlen war ihm fremd. In einem fort stolperte er, stieß sich mit den Schuhkappen an den einzeln liegenden Verwitterungsbrocken, und geriet mit den Beinen übers Kreuz, auch wo kein Hindernis war, nur kurzes Gras, Sand und die Weite. Er hob die Knie vor nichts und wieder nichts und wich einem Stier aus, der eine Kuh war, und keine etwa nah vor Augen, sondern am fernen Horizont. Ständig auch erwartete er sich einen Weg, der dabei gar nicht vonnöten war. Weglose Steppe? Die ganze Steppe, wenn auch da und dort mit kleinen Hindernissen, schmalen Wassergräben, einem verrotteten Zaun, war ein einziger, übersichtlicher Weg. Selbst das Geräusch der eigenen Schritte schien ihm nicht geheuer. Wo sein Mitwanderer ein altes Vergnügen auffrischte beim Knirschen des Sandes unter den Sohlen, beim Knistern der vor- und vorvorjährigen Halme und Stengel an den Knöcheln, beim Seufzen der bis in den Abend morgentaunassen Moospolster – all das war und blieb, wenn je eine, immer wieder neue Musik in seinen Ohren, bei der sein ganzes Wesen verstummte und lauschte –, gab es bei dem Dichter in seinem taglangen Monolog kein einziges Aufhorchen oder, Gott bewahre, Innehalten. Selbst aufmerksam gemacht auf etwa das Klingeln von aufeinandertreffenden Kieseln jetzt, auf das von Schritt zu Schritt im Ton wechselnde Platzkonzert von trockenen Schilfrohren, hätte er höchstens kurz abgewunken und sein Stadtgespräch, unberührt von seinem Gestolper und den fehlenden Gehsteigen, weitergesponnen. Das so vielstimmige Lauten des Steppenbodens war nicht seine Sache.
Ein kalter Vorabendwind umwehte die beiden auf dem Hügel des antiken Numancia. Von dem Neuen Numancia weit weg unten in der Flußschleife stieg ein Nebel auf, der sich oben auf der schon eingedunkelten Steppe
Weitere Kostenlose Bücher