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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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die örtliche Dichterautorität. Eine Autorität freilich, von der in den Bars sonst, gedrängt voll wie sie waren an den Abenden, so gar nichts auf ein Publikum übergriff. Wurde er eigens übersehen? Nein, er wurde überhaupt nicht bemerkt. Die Mädchen insbesondere, von denen so viele seiner Gedichte handelten, blickten über seine doch breiten Schultern und an seinem doch dicken Kopf vorbei, ohne auch nur, so oder so, eine Miene zu verziehen, einhellig woandershin. Und er schien das auch gewöhnt und hatte seinen Platz im hintersten Winkel des Lokals, und nicht etwa als Beobachter – das überließ er dem anderen –, sondern mit dem Blick einzig und starr auf diesen und die Wand. Aber, das entfuhr ihm dann beim Abschied, er würde es denen noch zeigen. Eines Tages, das sprach er freilich nicht aus, würden sie erkennen, wer er, Juan Lagunas, war. Eines Tages würden ihnen die Augen aufgehen, und sie würden sich in ihn verlieben, heiß, unbedingt – nein, nur eine von ihnen, die eine.
    Bis zum heutigen Tag war er so allein geblieben. Selbst seine Knappen, seine Gefolgschaft, hatte er nicht mehr, nicht einmal in der Einzahl. Immer noch dichtete er, verlegte Jahr für Jahr eine Broschüre. Zwar beschworen manche seiner Texte weiterhin die jungen Frauen. Aber für ihn, den Dichter, kamen sie nicht mehr in Frage. Er wußte inzwischen, daß es sein Los war, draußen zu bleiben, und nicht bloß, was die Frauenwelt anging. Kein Mensch auf der ganzen Welt – und das Neue Numancia blieb für ihn die ganze Welt – scherte sich um ihn, wenn auch bei dem alljährlichen Erscheinen wieder einer Gedichtbroschüre für ein paar Tage lang sein Photo im Schaufenster der Buchhandlung stand mit der Legende: »Der Dichter, der in unserer Stadt lebt.« Hatte man ihn früher ziemlich übersehen, so störte er jetzt die Umwelt sogar, und er bildete sich das nicht nur ein. Er war trotz allem, nicht nur durch das Photo im Schaufenster, sondern auch durch die lokale Zeitung, etwas wie eine öffentliche Gestalt geworden, und zugleich hatte niemand sein Geschriebenes gelesen. Er wurde auf der Straße erkannt, ohne daß die Passanten, anders als etwa bei einem aus dem Fernsehen vertrauten Sänger oder Fußballer, eine Ahnung davon hatten, was er im einzelnen tat. Ein Dichter, damit verbanden sie nichts mehr, weder ein Bild noch einen Ton. Selbst Antonio Machado war für die meisten ein bloßer Name geworden, der, weil er aber in der Stadt zugleich fast allgegenwärtig auftrat, nicht selten Gereiztheit hervorrief, siehe die zugeschwärzten Poeme, die immer noch, übriggeblieben, in der und jener Taverne hingen. Und er, sein Nachfolger, der einzige, machte nun tagaus, tagein die Straßen unsicher, und man schützte sich dagegen, indem man entweder den Kopf wegdrehte oder ihn mit einem Blick der Mißbilligung bedachte, über seinen Beruf, von dem die Mitansässigen wieder nur den Namen wußten und der, da er ihn außerdem allein und heimlich ausübte, nur gegen sie, gegen ihre Existenz gerichtet sein konnte. Er war ihr heimlicher Feind.
    »Und darin täuschen sich die Leute von Nueva Numuncia nicht einmal ganz«, sagte Juan Lagunas wählend des Rundgangs durch die Steppe. »Ich habe mit Liebesgedichten, nicht nur an Frauen, an die eine Frau, angefangen und schreibe mittlerweile fast nur noch Verlustgedichte. So wie ich selber draußen bin, so sind auch die anderen, die Mitbewohner im Pueblo, draußen. So sehe ich sie, so höre ich sie, so bedichte ich sie: wie sie jetzt sind im Vergleich zum Ehemals. Eine Horde, eingehüllt in schwarzen Staub, das ist mein Pueblo geworden, und in dem schwarzen Staub verborgen ein Lamento und eine Erinnerung, die ich wecken will mit einem Peitschenhieb.«
    Nicht viel anders klangen auch seine Gedichte: ein stilles Rasen. Bloß, daß dieses kaum jemanden mehr aufmerken ließ. Es war, als habe er, der Schwermütige, zu büßen für den Übermut, den angesichts der Gegenwart als frevelhaft oder zumindest als leichtsinnig empfundenen, der Schulstoff gewordenen Poeten vor seiner Zeit. Weder dichterischer Übermut noch entsprechende Schwermut galten mehr etwas, griffen, ergriffen. Den Dichterberuf, gab es ihn weiterhin? Oder wurde er bloß so behauptet, als Anmaßung? War es nicht bezeichnend, daß selbst Juans Mutter – bei der er noch immer hauste, wie schon als Kind, und noch immer im Kinderzimmer – seit jeher ihn gedrängt hatte, doch nicht so verstockt zu sein, den Mund aufzumachen, etwas zu sagen – und

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