Die Morde des Herrn ABC
Schlafen Sie ein wenig. Morgen wird es eine Menge zu tun geben.»
15
C hurston, das zwischen Brixham auf der einen und Torquay auf der anderen Seite liegt, war noch vor ungefähr zehn Jahren nur ein Golfplatz, an dessen Rande ein, zwei Bauernhäuser standen. Aber in den letzten Jahren war zwischen Churston und der Küste eine rege Bautätigkeit ausgebrochen, und nun säumten ganze Kolonien von Weekendhäusern und Bungalows die neu erstellten Straßen. Sir Carmichael Clarke hatte sich ein Stück Land gekauft, von dem aus er einen freien Blick auf das Meer hatte. Das Haus war in modernem Stil errichtet worden – ein weißes Rechteck, das einen gefälligen Eindruck machte. Abgesehen von zwei großen Räumen, die seine Sammlungen enthielten, waren die Zimmer nicht großartig oder pompös.
Wir kamen mit etwas Verspätung an. Ein Polizist hatte uns am Bahnhof erwartet und die Situation eingehend geschildert. Sir Carmichael Clarke hatte anscheinend die Gewohnheit gehabt, nach dem Abendessen noch einen Spaziergang zu machen. Als die Polizei – im Rahmen ihrer Warnaktion angerufen hatte, das heißt etwas nach elf Uhr abends, war er noch nicht zurück gewesen. Da er jedoch fast immer den gleichen Rundgang zu machen pflegte, dauerte es nicht lange, bis man seinen Leichnam fand. Todesursache war ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf, ausgeführt mit einem schweren Gegenstand. Ein offener ABC-Fahrplan lag, Rücken nach oben, auf dem toten Körper.
Wir erreichten Haus Combside – so hatte Sir Carmichael Clarke sein Besitztum genannt – um ungefähr acht Uhr. Ein ältlicher Butler, dessen verstörtes Aussehen und zitternde Hände von der schmerzlichen Erregung sprachen, in welche die Tragödie ihn versetzt hatte, öffnete uns die Eingangstür.
«Guten Morgen, Deveril», begrüßte ihn der Polizist.
«Guten Morgen, Mr. Wells.»
«Das sind die Herren aus London, Deveril.»
«Wollen Sie mir bitte folgen.» Der Butler führte uns in ein Speisezimmer, in dem der Frühstückstisch gedeckt war. «Ich werde sofort Mr. Franklin anrufen.»
Wenige Augenblicke später betrat ein großer, blonder Mann mit sonnenverbranntem Gesicht das Zimmer.
Es war Franklin Clarke, der Bruder des Verstorbenen. Sein sicheres Auftreten ließ darauf schließen, dass er schwierige und unvorhergesehene Situationen zu meistern verstand.
«Guten Morgen, meine Herren.»
Wells stellte uns vor.
«Inspektor Crome von Scotland Yard… Monsieur Hercule Poirot und – hm – Captain Hayter…»
«Hastings», verbesserte ich ihn kühl.
Franklin Clarke gab jedem von uns die Hand, wobei er allen forschend, fast stechend in die Augen sah.
«Darf ich Ihnen vielleicht ein Frühstück anbieten?», fragte er höflich. «Wir können die Sachlage ja auch beim Essen besprechen.»
Niemand erhob Einspruch, und wir ließen denn auch bald ausgezeichnetem Schinken mit Ei und ebenso gutem Kaffee volle Gerechtigkeit widerfahren.
«Und nun zur Sache», begann Franklin Clarke. «Mr. Wells hat mir in kurzen Zügen mitgeteilt, was gestern Nacht geschehen ist, und ich muss sagen, dass mir seine Schilderungen wie eine Räuberpistole vorkamen. Soll ich wirklich glauben, Inspektor Crome, dass mein armer Bruder das Opfer eines Wahnsinnigen geworden ist, dass der Mord bereits das dritte Verbrechen dieses Menschen darstellt und dass bei jedem Leichnam ein ABC-Fahrplan gelegen hat?»
«So ist es, Mr. Clarke.»
«Aber weshalb?! Welcher praktische Vorteil kann denn irgendjemandem aus einem solchen Verbrechen erwachsen? Selbst bei einer noch so entgleisten Vorstellungsgabe?»
Poirot nickte beifällig.
«Sie bringen die Sache gleich auf den Punkt, Mr. Clarke», sagte er.
«Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt ziemlich sinnlos, über die Motive nachzudenken, Mr. Clarke», warf Inspektor Crome ein. «Das ist eher Aufgabe eines Psychiaters – obwohl ich mir anmaße, selber allerhand Erfahrung mit krimineller Geistesgestörtheit und den damit zusammenhängenden Motiven für eine Untat zu haben. Meist handelt es sich ganz einfach darum, dass ein Mensch sich bestätigen will, dass er auffallen möchte, kurz: dass er jemand zu sein versucht, anstatt ein Niemand zu bleiben.»
«Stimmt das, Monsieur Poirot?»
Clarke schien zu zweifeln. Dass er sich an den älteren Mann wandte, rief bei Inspektor Crome ein unwilliges Stirnrunzeln hervor.
«Ja, das stimmt», antwortete mein Freund.
«Nun, dieser Irre kann jedenfalls der Entdeckung nicht lange entgehen», murmelte Clarke
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