Die Morde des Herrn ABC
aller Öffentlichkeit heraus, weil ich ihm – unbewusst – irgendwann im Laufe meiner Karriere eine Niederlage bereitet habe? Oder ist seine Gereiztheit unpersönlich und ganz einfach gegen einen Ausländer gerichtet, und wenn ja, was kann ihn dazu geführt haben? Welches Unrecht hat er durch einen Landesfremden einmal erleiden müssen?»
«Sehr einleuchtende Fragen», bemerkte Dr. Thompson.
Inspektor Crome räusperte sich.
«Glauben Sie? Ein wenig schwierig zu beantworten vielleicht, nein? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls!»
«Und doch, mein Freund, ist die Lösung des Falles in diesen Fragen enthalten.» Poirot sah dem Inspektor fest in die Augen. «Wenn wir wüssten, aus welchem Grund – wie fantastisch er uns auch vorkommen mag, ihm erscheint er durchaus logisch – dieser Wahnsinnige seine Verbrechen beging, dann würde uns vielleicht klar, wer das nächste Opfer sein wird.»
Crome schüttelte den Kopf.
«Er wählt sie völlig willkürlich aus, das ist meine feste Überzeugung.»
«Der großmütige Mörder», murmelte Poirot.
«Wie bitte?»
«Ich sagte: der großmütige Mörder! Franz Ascher wäre voraussichtlich des Mordes an seiner Frau, Donald Fraser des Mordes an Betty Barnard angeklagt worden, wenn ABC nicht seine Warnbriefe geschrieben hätte. Ist er denn so weichherzig, dass er den Gedanken nicht ertrüge, einen Unschuldigen für ein Verbrechen leiden zu sehen, das dieser nicht begangen hat?»
«Es geschehen noch weit eigenartigere Dinge», sagte Dr. Thompson. «Ich habe Männer gekannt, die nach einem halben Dutzend Morden plötzlich vollkommen zusammenbrachen, weil eines ihrer Opfer nicht rasch und schmerzlos starb, sondern qualvoll zu Grunde ging. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass unser Täter sich von solchen Motiven leiten lässt. Er will den Ruhm und die Ehre dieser Verbrechen für sich allein haben. Diese Erklärung scheint mir die einleuchtendste zu sein.»
«Wir haben noch keinen Entschluss gefasst bezüglich der Veröffentlichung», erinnerte der Londoner Commissioner.
«Darf ich einen Vorschlag machen, Sir?», fragte Crome eifrig. «Warten wir den nächsten Brief ab. Dann allerdings publizieren wir den ganzen Fall mit allen Einzelheiten, ganz groß, Spezialausgaben, dicke Schlagzeilen – und so weiter. Das wird zwar in der Stadt, die uns der Mörder als nächsten Tatort nennen wird, eine gewisse Panik auslösen, aber andererseits wird es jeden Menschen, dessen Name mit einem C beginnt, aufrütteln und zu besonderer Vorsicht veranlassen, was das Vorgehen von ABC erheblich erschweren wird. Er muss, um auch diesmal zu triumphieren, besonders raffiniert sein, und dabei werden wir ihn erwischen.»
Wie wenig ahnten wir doch, was uns die Zukunft bringen sollte.
14
I ch erinnere mich noch genau an die Ankunft des dritten Briefes. Es waren alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden, um ohne unnötige Verzögerung zupacken zu können, sobald ABC sich zur Fortsetzung seines Feldzuges entschlossen haben würde. Ein junger Sergeant von Scotland Yard war in unsere Wohnung abkommandiert worden, und wenn Poirot und ich ausgegangen waren, öffnete er alle Briefe, um sofort mit dem Hauptquartier in Verbindung zu treten, falls eine neuerliche Nachricht von ABC eintraf.
Während die Tage ereignislos verstrichen, wurden wir alle immer nervöser. Inspektor Cromes unnahbare und selbstherrliche Art wurde womöglich noch unnahbarer und selbstherrlicher, je mehr sich seine Lieblingstheorien als haltlos erwiesen. Die unklare Beschreibung der Männer, mit denen Betty Barnard gesehen worden sein sollte, hatte zu keinerlei Resultaten geführt. Verschiedene Autos, die in der Nähe von Bexhill gesichtet worden waren, gehörten entweder durchaus ehrbaren Bürgern oder konnten überhaupt nicht mehr eruiert werden. Die Nachforschungen bezüglich der Käufer von ABC-Fahrplänen hatten wohl vielen unschuldigen Leuten eine Menge Unannehmlichkeiten verschafft, aber kein brauchbares Ergebnis gezeitigt.
Was uns betrifft, so fuhren wir jedes Mal zusammen, wenn der Postbote an unserer Tür erschien. Ich jedenfalls bekam immer Herzklopfen vor Erwartung, und ich glaube nicht, dass es meinem Freund anders erging. Poirot war tief unglücklich über den Fall, das wusste ich genau. Er weigerte sich, London zu verlassen, um ja zur Stelle zu sein, falls etwas passierte. Sogar sein Schnurrbart hing trübselig herunter, weil sein Eigentümer ihn in diesen spannungsgeladenen Tagen schmählich vernachlässigte.
Es
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