Die Morgengabe
wegwerfende
Handbewegung. «Kurz und gut, nachdem ich abgefahren war, wurde mein Vater
plötzlich verhaftet. Die Gestapo hat ihn abgeholt und drei Tage festgehalten.
Mich benachrichtigte keiner. Als er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, hieß
es, er und die Familie müßten das Land innerhalb einer Woche verlassen, sonst
kämen alle in ein Lager. Jeder durfte nur einen Koffer und zehn Reichsmark
mitnehmen – davon kann man nicht mal einen Tag lang leben. Aber das spielte in
diesem Fall natürlich alles keine Rolle. Sie wollten nur weg. Ich war zwei Tage
vorher mit dem Studententransport abgereist.»
«Und wieso hat es dann nicht
geklappt?»
«An der Grenze ist ein Haufen
SS-Leute zugestiegen. Sie wollten unsere Unbedenklichkeitserklärungen sehen.»
«Eure was?»
Sie strich sich mit der Hand über
die Stirn, und er meinte, niemals einen jungen Menschen gesehen zu haben, der
so müde wirkte. «Das ist irgendein neuer Ausweis – sie erfinden dauernd welche
– zum Nachweis, daß man politisch unauffällig ist. Sie wollen keine Leute ins
Ausland lassen, die dort dann dem Regime Ärger machen.»
«Und Sie hatten keine solche
Erklärung?»
«Richtig. An der Uni hatte ich einen
Freund, der war mal in Rußland und ist Kommunist geworden. Ich hatte natürlich
Dostojewski gelesen, und ich fand, man müßte auf der Seite des Proletariats
kämpfen und mit den Verbannten nach Sibirien gehen und so. Ich hab mich nie
wohlgefühlt, wenn ich sah, wieviel wir – und wie wenig andere hatten. Ich
meine, es kann doch nicht recht sein, daß manche Menschen alles haben und
andere gar nichts.»
«Das stimmt. Aber etwas dagegen zu
tun, ist nicht so einfach.»
«Jedenfalls bin ich nicht in die
kommunistische Partei eingetreten wie dieser Freund von mir. Die haben sich ja
dauernd gestritten, obwohl sie sich gegenseitig < Genossen > nannten. Aber
ich bin zu den Sozialdemokraten gegangen, und wir haben Protestmärsche
veranstaltet und uns mit den Nazis angelegt. Bei den Behörden war ich natürlich
als gefährliche Radikale verschrien.»
«Und als man Sie dann aus dem
Studentenzug herausholte, waren Ihre Eltern schon abgereist?»
«Nein, sie waren noch hier. Ich habe
bei Freunden von ihnen angerufen, weil unser Telefon gesperrt war, und die
sagten mir, daß sie am nächsten Tag abreisen wollten. Ich wußte, daß sie nicht
reisen würden, wenn sie hörten, daß ich noch in Österreich war, darum habe ich
nichts gesagt und bin zu unserer alten Köchin in Grinzing gezogen, bis sie weg
waren.»
«Das war tapfer», sagte Quin leise.
Sie zuckte die Achseln. «Es war sehr
schwierig für mich, das muß ich zugeben. Es war vielleicht das Schwierigste,
was bisher von mir verlangt worden ist.»
«Und wenn Sie Glück haben, wird es
auch das Schwierigste bleiben.»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, das
glaube ich nicht.» Die Worte waren fast nicht zu hören. «Ich glaube, für mein
Volk ist es Nacht geworden.»
«Unsinn.» Er sprach betont munter.
«Wir werden schon Mittel und Wege finden, um Sie hier herauszubekommen. Ich
gehe gleich morgen früh zum britischen Konsulat.»
Wieder dieses Kopfschütteln, bei dem
das blonde Haar ihr um die Schultern tanzte. «Ich habe alles versucht. Hier
sitzt ein Mann im Amt, der den Leuten bei der Ausreise helfen soll, aber in
Wirklichkeit sorgt er nur dafür, daß ihnen alles abgenommen wird, was sie
besitzen. Sie haben keine Ahnung, was hier los ist – die Leute weinen und schreien
...»
Er war aufgestanden und ging langsam
durch das Zimmer, während er überlegte. «Die Wohnung ist wirklich sehr groß.»
«Ja.» Sie nickte. «Zwölf Zimmer.
Zwei davon hat meine Großmutter bewohnt, aber sie ist letztes Jahr gestorben.
Als ich klein war, bin ich hier mit meinem Dreirad in sämtlichen Korridoren
herumgefahren.» Sie folgte ihm. «Das ist mein Vater in der Uniform des 14.
Ulanenregiments. Er wurde zweimal wegen Tapferkeit ausgezeichnet – er konnte
nicht glauben, daß das alles nicht zählt.»
«Ist er Jude?»
«Ja, der Geburt nach. Ich glaube
aber nicht, daß er sich je darüber Gedanken gemacht hat. Seine Religion ist die
Menschlichkeit ... er glaubt, daß jeder sich bemühen sollte, das Beste aus sich
herauszuholen. Er glaubt an einen Gott, der allen gehört – daß man den
göttlichen Funken, der in einem ist, hüten und zur Flamme anfachen muß. Und
meine Mutter ist katholisch erzogen worden, für sie ist es doppelt schlimm. Sie
ist nur Halbjüdin – vielleicht auch Vierteljüdin, wir
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