Die Morgengabe
die Hausmeisterin in
ihrer Loge.
«Was ist in Professor Bergers
Wohnung passiert?»
Sie warf einen nervösen Blick zur
offenen Tür, hinter der er einen alten Mann sehen konnte, der mit
ausgestreckten Beinen in einem Sessel saß und Zeitung las.
«Sie sind plötzlich hier erschienen
– so ein paar Braune – eine richtige Schlägerbande, anders kann man's nicht
nennen. Das tun sie immer, wenn Wohnungen leerstehen. Offiziell ist es nicht
erlaubt, aber keiner unternimmt was gegen sie.» Sie zog die Nase hoch. «Ich
weiß nicht, was ich tun soll. Der Professor hat mich gebeten, mich um die
Wohnung zu kümmern, aber wie soll ich das machen? Nächste Woche zieht da ein
deutscher Diplomat ein.»
«Und Fräulein Berger? Was ist mit
ihr?»
«Keine Ahnung.» Wieder ein
ängstlicher Blick zur offenen Tür. «Ich kann Ihnen nichts sagen.»
Er war schon auf der Straße, als er
ihre heisere alte Stimme hörte. Sie rief ihn, und als er sich umdrehte, rannte
sie ihm nach, immer noch in ihrer Kittelschürze.
«Ich soll Ihnen das von ihr geben.
Von Fräulein Berger. Aber Sie sagen bittschön nichts, Herr Doktor? Mein Mann
ist schon seit Jahren bei den Nazis, er würde es mir nie verzeihen. Ich könnte
die größten Scherereien kriegen.»
Sie reichte ihm einen weißen
Umschlag, aus dem, als er ihn öffnete, zwei Schlüssel herausfielen.
2
Ruth hatte das Standbild der Kaiserin
Maria Theresia auf ihrem Marmorsockel immer besonders gern gehabt. Von ihren
Feldherren, mehreren Pferden und Buchsbaumhecken umgeben, sah sie mit dem
selbstzufriedenen Blick der guten Hausfrau, die eine volle Speisekammer und
ordentliche Schränke hinterlassen hat, auf die flanierenden Wiener hinunter.
Jedes Schulkind wußte, daß sie Österreich groß gemacht hatte, daß der
sechsjährige Mozart auf ihrem Schoß gesessen, daß ihre Tochter Marie-Antoinette
den König von Frankreich geheiratet und unter der Guillotine geendet hatte.
Für Ruth besaß die rundliche,
hausbackene Kaiserin noch eine zusätzliche Bedeutung: Sie war die Hüterin der
beiden großen Museen zu beiden Seiten des Platzes, der ihren Namen trug. Auf
der Südseite stand das Kunsthistorische Museum, ein majestätischer
Pseudo-Renaissancepalast, in dem die berühmten Gemälde Tizians und Holbeins
hingen und die schönsten Brueghels der Welt. Und im Norden – sein Pendant bis
auf die letzte kannelierte Säule und gezierte Kuppel – war das Naturhistorische
Museum. Als Kind hatte sie beide Museen geliebt. Das Kunsthistorische Museum
gehörte zu ihrer Mutter, angefüllt mit Erbauung, Leiden und Liebe – etwas sehr
viel Liebe. Die Madonnen liebten ihre Kindlein, Jesus liebte die armen Sünder,
und der heilige Franz liebte die Vögel.
Im Naturhistorischen Museum gab es
keine Liebe, sondern nur Fortpflanzung. Dafür aber gab es dort Geschichten und
Phantasiereisen und viel Arbeit. Dies war die Welt ihres Vaters, und wenn Ruth
ihn dort besuchte, dann war sie nicht ein Kind wie alle anderen. Wenn sie sich
nämlich an dem Helmkasuar in seinem Nest, dem See-Elefanten mit seinem
gewaltigen Brustkasten und an den schimmernden Bändern der Schlangen in ihren
mit farbiger Flüssigkeit gefüllten Behältern sattgesehen hatte, konnte sie
durch eine Zaubertür gehen und wie Alice im Wunderland in eine geheime Welt
eintreten.
Hier, hinter den vergoldeten,
stillen Galerien mit ihren grauuniformierten Wächtern, befand sich ein
Labyrinth von Präparierräumen und Labors, von Werkstätten und Büros. Hier
wurde die wahre Arbeit des Museums geleistet. Hier war das Zentrum wissenschaftlicher
Arbeit und fachlichen Wissens, dessen Wirken bis in die fernsten Länder
reichte. Seit ihrer frühen Kindheit hatte Ruth bei dieser Arbeit zusehen und
helfen dürfen. Manchmal galt es das Skelett eines Dinosauriers
zusammenzusetzen; manchmal durfte sie Konservierungsmittel auf eine
ausgespannte Tierhaut sprühen. Das Zimmer ihres Vaters war ihr so vertraut wie
sein Arbeitszimmer in der Rauhensteingasse. Jetzt flüchtete sie sich, der
Heimat und der Hoffnung beraubt, an diesen Ort.
Es war Dienstag, der Tag, an dem das Museum für die
Öffentlichkeit geschlossen war. Leise öffnete Ruth die Seitentür und huschte
die Treppe hinauf.
Im Zimmer ihres Vaters war alles so
wie immer. Sein Labormantel hing hinter der Tür; seine Aufzeichnungen lagen
neben einem Stapel Zeitschriften auf dem Schreibtisch. Auf dem Arbeitstisch am
Fenster stand das Brett mit den fossilen Skeletteilen, die er zu sortieren
begonnen hatte, als
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