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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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als
noch Mammut und Säbelzahntiger die Erde unsicher gemacht hatten.
    Als das Semester zu Ende ging, luden
die Bergers ihn in ihr Haus am Grundlsee ein.
    «Es ist so schön dort», versicherte
Ruth. «Der Regen und die Salamander – und wenn man sich auf dem Steg auf den
Bauch legt, kann man durch die Ritzen massenhaft kleine Fischlein sehen, wie
eingerahmt.»
    Eigentlich wurde er in Cambridge
zurückerwartet, aber er nahm die Einladung an und entpuppte sich als begabter
Heidelbeerpflükker und
kraftvoller Ruderer, der mit gleicher Begeisterung wie alle anderen «Wunderbar!» rief. Sie
genossen seine Gesellschaft, und er seinerseits nahm herrliche Erinnerungen an
das österreichische Landleben mit nach Hause: Tante
Hilda, im knielangen gestreiften Badekostüm energisch schwimmend,
ohne von der Stelle zu kommen; die betagte Mutter des Professors, im Rollstuhl
einen unbefugt eingedrungenen Ziegenbock
jagend; und Klaus Biberstein, zweiter Geiger des Ziller-Quartetts, der Leonie
liebte, aber einen empfindlichen Magen hatte und gegen Mitternacht
hinausschlich, um seinen heimlich unterschlagenen Knödel an die Fische zu
verfüttern.
    Ruth sah er relativ selten. In einer
dieser Holzhütten, die österreichische Musiker so lieben, übte nämlich Vetter
Heini sein Klavierspiel,
und sie hatte alle Hände voll damit zu tun, ihn mit Krügen voll Milch und Tellern voll
Keksen bei Kräften zu halten. Einmal traf er sie mit einem recht erstaunlichen
Sortiment von Büchern am Seeufer an: Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis, Louisa May Alcotts Kleine Frauen und ein
grell aufgemachtes Cowboybuch mit dem Titel Jakes letzter Kampf.
    Als er kam, war sie gerade mit
gefurchter Stirn in den KrafftEbing vertieft.
    «Du meine Güte!» sagte er. «Darfst
du das denn lesen?»
    Sie nickte. «Ich darf alles lesen.
Leider muß ich aber auch alles essen, sogar Grießbrei.»
    Am Abend vor seiner Abfahrt ließ
Miss Kenmore sich nicht länger zurückhalten und teilte Quin mit, daß Ruth ihm
nach dem Essen Keats' Ode an eine Nachtigall aufsagen werde.
    «Sie kann das ganze Gedicht
auswendig, Dr. Somerville», er klärte Miss Kenmore – und Quin gesellte sich,
einen Seufzer unterdrückend, zur Familie ins Wohnzimmer mit den hohen Fenstern,
die zum See geöffnet waren.
    Ruth trug das helle Haar offen, ein
Samtband hineingeschlungen – es war offensichtlich ein bedeutender Anlaß; doch
zuerst einmal mußte Quin den Blick senken und hatte Mühe, seine Gesichtszüge zu
beherrschen: sie trug die berühmten Worte mit unverkennbar schottischem Akzent
vor.
    Erst als sie zum vorletzten Vers
kam, zu jenem Teil des Gedichts, der sie persönlich anzugehen schien, da er von
ihrer Namensvetterin sprach, hob er, von einem Ton in ihrer Stimme aufmerksam
gemacht, den Kopf.
    «Vielleicht
ist es das alte Lied, das Ruth ins Herz
drang, als sie ohne Heimat war und Tränen
ausgoß über fremdem Korn ...»
    Abgedroschene Zeilen, Worte, die ihm die Schule
verleidet hatte – und dennoch besaßen sie die Macht, ihn zu ergreifen.
    Aber in keinem der Anwesenden, in
keinem der Menschen, die Ruth liebten und sich von der Traurigkeit des Gedichts
bewegen ließen, weder in Quin noch in Ruth selber erwachte auch nur der
Schimmer einer Vorahnung. Niemand bekam eine Gänsehaut; kein Geist schwebte
über das stille Wasser des Sees. Daß dieses behütete, geliebte Kind jemals
gezwungen sein sollte, seine Heimat zu verlassen, war unvorstellbar.
    Am nächsten Tag reiste Quin nach
England ab. Die ganze Familie brachte ihn zur Bahn und lud ihn ein, bald wiederzukommen
– aber acht Jahre vergingen, ehe er nach Wien zurückkehrte, und da kam er in
eine andere Stadt, in eine andere Welt.

1
    An dem Tag, als Hitler in Wien einmarschierte, befand
Professor Somerville sich in Nordindien und führte die Mitglieder seiner
Expedition, denen von Dankbarkeit nichts anzumerken war, bergabwärts durch
eine Schlucht, die so eng war, daß überhängende Felsen alles bis auf einen
schmalen Streifen des klaren blauen Himmels verdeckten.
    «Niemals bekommen wir die Tiere da
hinunter», hatte der belgische Geologe, den er hatte mitnehmen müssen, geunkt.
    Doch Quin hatte nur vage erwidert,
er glaube, es werde schon irgendwie gehen, womit er meinte, wenn alle sich
mächtig anstrengten und genau taten, was er ihnen sagte, bestünde eine Chance
– und jetzt weitete sich die Schlucht tatsächlich, sie kamen an den ersten
Bäumen vorüber und marschierten wenig später durch Föhren- und Zedernwald, bis
sie

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