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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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der gefürchtete «Basher» Somerville – war der Hüter Quins früher
Jahre, und die unverheiratete Tante, die nach seinem Tod Quins Erziehung in die Hand nahm, schien kaum jünger. Aber
wenn auch keiner da war, der dem verwaisten kleinen Jungen Wärme schenkte, so
wurde ihm doch etwas gegeben, das er hoch zu schätzen wußte: Freiheit.
    «Lassen Sie dem Jungen seine
Freiheit», riet der Hausarzt vernünftigerweise, als Quin bald nach seiner
Ankunft in Bowmont ein langwieriges Fieber bekam, für das es keine rechte
Erklärung gab. «Für die Schule ist später noch Zeit. Er ist ja ein aufgeweckter
kleiner Bursche.»
    Quin bekam also eine Gnadenfrist,
ehe er sich der Monotonie britischer Internate ergeben mußte, und richtete sich
in seiner eigenen geheimen und durchaus beglückenden Welt ein. Viele Kinder,
insbesondere Einzelkinder, schaffen sich einen unsichtbaren Spielgefährten,
der sie durch den Tag begleitet. Quins Gefährte seit seinem achten Lebensjahr
war nicht ein imaginärer Bruder oder verständnisvoller Junge seines eigenen
Alters, sondern ein Dinosaurier. Das Tier – ein Brontosaurus, den er Harry
nannte – war zwanzig Meter lang. Sein Kopf, wenn er ihn durchs Kinderzimmerfenster
steckte, füllte das ganze Zimmer aus, und sein herzerwärmendes Lächeln hatte
überhaupt nichts Bedrohliches; er fraß ja nur die Bambushölzer im Gebüsch und
die Farne und Moose im Wäldchen, das an den Rasen angrenzte.
    Ein Artikel in einer
Jugendzeitschrift hatte Quin mit Harry bekanntgemacht; Conan Doyles The Lost
World führte ihn tiefer in die Fabelwelt der Vorgeschichte. Er wurde der
Anführer der Dinosaurier, ein Mowgli der jurassischen Sümpfe, der selbst den
schrecklichen Tyrannosaurus rex zähmte, auf dessen Rücken er ritt.
    «Ich muß sagen, man braucht sich
wirklich nicht anzustrengen, um ihn zu unterhalten», erklärte sein
Kindermädchen, das keine Ahnung hatte, daß kein Spiel und keine Geschichte es
mit den Dramen aufnehmen konnten, die Quin in seinem Kopf in Szene setzte. Von
den Dinosauriern aus marschierte er vorwärts und rückwärts durch die
Erdgeschichte. Er las von den geologischen Schichten der Erde, von
Leuchtfischen und den Säugetieren des Pleistozäns. Als er elf war, setzte er
beinahe täglich sein Leben aufs Spiel, wenn er auf der Suche nach Fossilien in
Klippen und Steinbrüchen herumkletterte. In den alten Stallungen hatte er
begonnen, eine Sammlung anzulegen, der er den stolzen Namen «Somerville-Museum
für Naturgeschichte» gab. Als er älter wurde und Harry allmählich verblaßte,
wurde das Museum erweitert, nahm nun auch die Meeresfunde auf, die allenthalben
zu machen waren. Denn Quins Zuhause stand ja an der Nordsee über dem
sandgesäumten Halbmond der Bowmont-Bucht, deren Felstümpel sein Kinderzimmer
waren; die Geschöpfe in ihnen interessanter als jedes Spielzeug.
    Quin wäre verdutzt gewesen, hätte
jemand ihm gesagt, daß er «Wissenschaft betrieb» oder «sich bildete», und
später, in Cambridge, war er erheitert über den feierlichen Ernst, mit dem man
dort Kenntnisse vermittelte, die er sich vor seinem elften Lebensjahr
angeeignet hatte, und über die umständlichen Vorbereitungen für Exkursionen zu
Orten, an denen er mit Turnschuhen herumgeklettert war.
    Beim Abschlußexamen in
Naturgeschichte schnitt er – es war beinahe peinlich, wie leicht es ihm fiel –
als Bester ab. Dank seiner ungebundenen Kindheit jedoch verspürte er keine
Neigung, eine feste Anstellung an einer Schule oder Universität anzunehmen. Da
er seit seinem achtzehnten Geburtstag finanziell unabhängig war, konnte er es
sich leisten, seine Zeit vor allem Expeditionen in schwer zugängliche Gebiete
der Erde zu widmen; jetzt aber verliebte er sich in die Stadt Wien.
    Nicht in das Wien der Operette und
der Cremetörtchen, auch wenn er derlei Genüsse durchaus zu schätzen wußte,
sondern in die strengen Arkadenhöfe der Universität im Schmuck der steinernen
Büsten ehemaliger Lehrer. Da war Doppler neben Semmelweis zu sehen, dem «Retter
der Mütter», der das Kindbettfieber gebannt hatte, und Billroth, der Chirurg,
der mit Brahms befreundet gewesen war. In der Bibliothek der Hofburg drehte
Quin den gewaltigen, auf goldenem Sockel stehenden Globus, vor dem Kaiser
Ferdinand gestanden hatte, ehe er seine Forscher in die Welt hinaussandte. Und
im Naturhistorischen Museum entdeckte er eine kleine, häßliche Figur mit dickem
Bauch, die Venus von Willendorf, von Menschenhand geschaffen zu einer Zeit,

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