Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
Vom Netzwerk:
Papa wieder, er saß auf einem ramponierten alten Sofa in der Mitte des ansonsten leeren Raums. Er wandte den Kopf. »Ich wäre gern noch einmal jung«, sagte er zu ihnen. »Um zusehen zu können, wie alles passiert.«
    Sie war von einem Gefühl des Glücks erfüllt. Sie schlug die Augen auf, und das Gefühl des Glücks blieb, der Traum war wirklicher als die Wirklichkeit. Sie konnte das Lächeln auf ihrem Gesicht spüren, als hätte es jemand dort eingepflanzt. Der Traum verblaßte, aber das Gefühl der heiteren Zufriedenheit blieb. Ihre Augen registrierten befriedigt die schattenhaften Einzelheiten ihres Schlafzimmers. Das Blitzen des Messingfußteils, die Umrisse des wuchtigen Kleiderschranks, die offenen Fenster mit den Vorhängen, die sich in der duftenden Nachtluft ganz leicht bauschten.
    »Ich wäre gern noch einmal jung. Um zusehen zu können, wie alles passiert.«
    Auf einmal war sie hellwach und wußte, daß sie nicht wieder einschlafen würde. Sie schob die Decke zurück und stand auf, tastete mit den Füßen nach den Hausschuhen und griff nach ihrem Morgenrock. Sie öffnete im Dunkeln die Tür und ging hinunter in die Küche. Sie knipste die Lampe an. Es war warm, und alles war aufgeräumt. Sie füllte einen Tiegel mit Milch und setzte ihn auf. Dann nahm sie einen Becher aus der Anrichte, tat einen Löffel Honig hinein, füllte ihn bis zum Rand mit heißer Milch und rührte um. Sie nahm den Becher und ging durch das Eßzimmer ins Wohnzimmer. Sie knipste die Lampe über den Muschelsuchern an, und in dem warmen Schein schürte sie die Glut und legte einige Scheite auf. Als sie entflammten, ging sie mit dem Becher zum Sofa, schob die Kissen zurück, setzte sich in die Ecke und zog die Beine hoch. Über ihr leuchtete das Bild wie ein bleiverglastes, von der Sonne beschienenes Fenster. Es war ihr ureigenes Mantra, so unwiderstehlich wie der magische Zeigefinger eines Hypnotiseurs. Sie betrachtete es mit gespannter Aufmerksamkeit, unverwandten Blicks, und wartete darauf, daß der Zauber wirkte, das Wunder geschah. Sie trank das Blau des Meeres und des Himmels in sich hinein, und nach einer Weile spürte sie den salzigen Wind, roch Seetang und feuchten Sand, hörte den Schrei der Möwen und das Brausen des Windes. In der Geborgenheit von Podmore’s Thatch konnte sie sich den Erinnerungen an die vielfältigen und zahlreichen Stunden in ihrem Leben hingeben, in denen sie dies getan hatte - sich zu den Muschelsuchern geflüchtet und ohne Zeugen Zwiesprache mit ihnen gehalten hatte. Sie hatte in jenen trostlosen Jahren nach dem Krieg in London immer wieder verzagt vor ihnen gesessen, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußte, wenn der Kampf um das tägliche Brot und das fehlende Geld und der Mangel an Zärtlichkeit und Zuwendung und die hoffnungslose Gleichgültigkeit ihres Mannes und eine furchtbare Einsamkeit, die nicht einmal ihre eigenen Kinder vertreiben konnten, sie schier verzweifeln ließen. So hatte sie an dem Abend gesessen, als Ambrose seine Sachen gepackt und seine Familie verlassen hatte, um nach Yorkshire zu fahren, wo Wohlstand und Delphine Hardacres warmer junger Körper auf ihn warteten, und so hatte sie gesessen, als Olivia, das Kind, das ihr am liebsten war, das Haus in der Oakley Street für immer verließ, um ihre erste eigene Wohnung zu beziehen und ihre Karriere, die sich so vielversprechend angelassen hatte, fortzusetzen.
    Du darfst nicht zurückgehen, sagten sie ihr alle. Nichts wird mehr so sein wie früher. Aber sie wußte, daß sie sich irrten, weil die Dinge, nach denen sie sich am meisten sehnte, elementar und, solange die Welt sich nicht selbst in die Luft jagte, unveränderlich waren.
    Die Muschelsucher. Die Beständigkeit des Bildes erfüllte sie mit Dankbarkeit, so wie ein alter und unwandelbar zuverlässiger Freund. Und wie man dazu neigt, Freunde im Lauf der Zeit zunehmend als seinen persönlichen Besitz zu betrachten, hatte sie sich an das Werk geklammert, mit ihm gelebt und jeden Gedanken an eine Trennung von sich gewiesen. Aber nun sah es auf einmal anders aus. Es gab nicht mehr allein eine Vergangenheit, nein, es gab auch eine Zukunft. Pläne mußten gemacht werden, neue Freuden winkten, eine neue Perspektive hatte sich vor ihr aufgetan. Außerdem war sie vierundsechzig. Sie durfte nicht mehr die Jahre verschwenden, indem sie sehnsüchtig zurückblickte. Sie sagte laut: »Vielleicht brauche ich euch nicht mehr.« Das Bild antwortete nicht. »Vielleicht ist es Zeit, euch gehen

Weitere Kostenlose Bücher