Die Muschelsucher
sich eine schändliche Hoffnung aus den Tiefen ihres Unbewußten und vergiftete ihre Gedanken. Eine Hoffnung, daß Ambrose etwas passieren möge. Natürlich nicht, daß er umkommen möge. Das war undenkbar. Sie wünschte niemandem den Tod, schon gar nicht einem so jungen, ansehnlichen und lebenslustigen Mann wie ihm. Wenn er nur zwischen all den Kämpfen im Mittelmeer und den nächtlichen Wachen und den Jagden auf die feindlichen U-Boote einen Hafen anlaufen und dort einer jungen Frau, vielleicht einer Krankenschwester oder einem Mädchen vom Marinehilfskorps, über den Weg laufen würde, die viel, viel attraktiver war als sie, und wenn er sich unsterblich in sie verlieben würde und wenn sie seine Liebe erwidern und später dann ihren, Penelopes, Platz einnehmen und all seine Träume vom Glück erfüllen würde.
Er würde ihr natürlich schreiben, daß er eine andere gefunden hätte.
Liebe Penelope!
Dieser Brief fällt mir unendlich schwer, aber ich muß es Dir sagen. Ich habe Eine Andere kennengelernt. Was zwischen uns beiden geschehen ist, ist zu groß, um dagegen anzukämpfen. Unsere Liebe zueinander, und so weiter, und so fort.
Jedesmal, wenn sie eine seiner seltenen Nachrichten erhielt - meist unpersönliche Aerogramme, eine Seite, die auf die Größe eines Schnappschusses verkleinert war - , schlug ihr Herz höher in der schwachen Hoffnung, endlich diese oder ähnliche Worte zu lesen, aber sie wurde unweigerlich enttäuscht. Wenn sie die wenigen hingekritzelten Zeilen las, in denen er über Offizierskameraden berichtete, die sie nie kennengelernt hatte, oder von einer Party auf einem anderen Schiff erzählte, wußte sie, daß sich nichts geändert hatte. Sie war immer noch mit ihm verheiratet. Er war immer noch ihr Mann. Sie steckte das Aerogramm in den Umschlag zurück, und später, oft Tage später, setzte sie sich dann hin und versuchte, es zu beantworten, und schrieb einen Brief, der noch langweiliger und nichtssagender war als seiner: »Wir waren neulich bei Mrs. Penberth zum Tee. Ronald ist zu den Seepfadfindern gegangen. Nancy kann jetzt schon ein Haus malen.«
Nancy. Nancy war kein Baby mehr, und während sie größer und verständiger wurde, interessierte Penelope sich zunehmend für sie und entwickelte immer mehr mütterliche Gefühle. Sie sah zu, wie aus dem hilflosen Säugling ein niedliches kleines Kind wurde, und es war, als beobachte sie eine Knospe, die sich zu einer Blüte öffnete - ein langsamer und wunderschöner Prozeß. Wie Papa gesagt hatte, bekam sie ein Renoir-Gesicht, rosig und goldblond, mit langen dunklen Wimpern und winzigen Perlenzähnen, und sie blieb der gehätschelte Liebling von Doris und fast allen ihren Freundinnen. Manchmal kam Doris mit dem Kinderwagen von einem Kaffeeklatsch zurück und zeigte ihr triumphierend ein Kleidchen oder irgend etwas anderes zum Anziehen, das eine junge Mutter ihr geschenkt hatte, weil ihr Kind aus ihm herausgewachsen war. Es wurde sofort gewaschen und sorgsam gebügelt, und dann zogen sie Nancy den neuen Staat an. Nancy liebte es, herausgeputzt zu werden. »Ist sie nicht süß«, hauchte Doris dann, mehr zu Nancy als zu jemand anderem gewandt, und Nancy lächelte befriedigt und strich den Rock des neuen Kleides mit ihren tapsigen dicken Fingerchen glatt.
In solchen Augenblicken war sie ganz Dolly Keeling, aber auch das konnte Penelopes Freude und Belustigung nicht trüben. »Du bist eine richtige kleine Dame«, sagte sie zu Nancy und hob sie hoch, um sie an sich zu drücken. »Ein süßes kleines Ding.« Die Sorge um genügend Essen für die Familie und Kleidung für Nancy und die Jungen beanspruchte fast jede Minute ihrer und Doris’ Zeit. Die Rationen waren auf lächerliche Mengen geschrumpft. Sie ging jede Woche einmal den steilen Weg zum Ort hinunter und betrat den Lebensmittelladen von Mr. Ridley. Sie war bei Mr. Ridley »eingetragen«. Sie legte die Lebensmittelhefte der Familie auf den Tresen und konnte damit ein paar Gramm Zucker, Butter, Margarine, Schmalz, Käse und Schinkenspeck kaufen. Fleisch einzukaufen war noch schlimmer, weil man stundenlang draußen auf dem Bürgersteig Schlange stehen mußte, ohne zu wissen, wofür man anstand, und wenn man im Gemüseladen Obst und Gemüse kaufte, wurde alles, so wie es war, samt Erde und angefaulten Deckblättern und allem, ins Netz gepackt, weil es kein Papier für Tüten gab, und um eine Tüte zu bitten, galt als unpatriotisch. Die Zeitungen brachten sonderbare, vom
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