Die Mutter
lange sie vergebens darauf gehofft hatte und wie glücklich sie gewesen war, als er ihr endlich sagen konnte, dass sie schwanger sei. Nach Susis Tod kam sie nicht mehr in die Praxis. Sie gab sich die Schuld an dem Unglück, weil sie einen Moment lang nicht auf das Kind geachtet hatte. Nur zwei Wochen nach der Beerdigung nahm sie sich das Leben. Furchtbar, sagten wir und glaubten fest, dass solche Katastrophen immer nur andere trafen.
Uns passiert so etwas nicht!
Irgendwo im Hinterkopf tickte zwar die Uhr: Eltern sind nicht unsterblich. Mein Vater war fünfundsiebzig, meine Mutter nur zwei Jahre jünger. Ich wusste, dass ich irgendwann, vielleicht ganz plötzlich, einen von beiden würde hergeben müssen. Ich dachte nur nicht darüber nach. Und Sorgen um die Kinder? Es gab keinen Grund.
Dass sie in einem Moment der Unaufmerksamkeit ertrinkenkönnten, stand nicht zu befürchten. Aus dem Alter waren sie heraus. Anne war fast achtzehn, Rena stand kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Auch ein gefährliches Alter, natürlich. Aber unsere Töchter trieben sich nicht in fragwürdigen Lokalen herum. Für sie war sogar die Zigarette ihres Großvaters pures Gift. Was hätten wir uns den Kopf zerbrechen sollen über Drogen oder Aids?
Anne hatte, seit sie fünfzehn war, einen so genannten festen Freund; Patrick Urban, ein netter, wohlerzogener junger Mann aus gutem Haus. Und Rena machte sich noch nichts aus Jungs. Rena liebte Tanita, die Fuchsstute, die sie an dem Maisonntag mit Zuckerwürfeln dafür belohnte, dass sie unseren Rasen nicht auffraß. Sie liebte Berry, den Apfelschimmel, für den sie häufig ein paar Möhren aus dem Garten stibitzte. Sie liebte nach wie vor Blacky, die schwarze Schönheit aus dem Orient, obwohl Blacky bereits im Pferdehimmel war. Man hatte sie im Januar einschläfern müssen. Und der erste Platz in Renas Herz gehörte Mattho, dem braunen Hengst. Ein Prachtexemplar von einem Pferd, ein Wundertier, wenn man Rena Glauben schenkte.
Im Juli verbrachten wir zwei erholsame Wochen in einer gemütlichen Familienpension im Harz – nur Jürgen, die Mädchen und ich. Meine Eltern mochten nicht mehr verreisen, und Jürgen war zu erschöpft gewesen für einen langen Flug. Er hielt es auch nicht mehr für ratsam, sich der südlichen Sonne auszusetzen. Wir unternahmen herrliche Spaziergänge auf schattigen Waldwegen, genossen die Ruhe und hörten zwanzigmal am Tag Renas Seufzer: «Wären wir doch schon wieder zu Hause.»
Zu Hause – für Rena war das nicht der Hof, den wir zwei Jahre zuvor gekauft hatten, es war der Reitstall. Damit hatten wir uns abgefunden. Sie hatte sich schwer getan mit dem Wechsel von der Stadt aufs Land. Anfangs hatte sie darauf bestanden, erst am Abend heimzukommen. «Sonst sehe ich meine Freunde ja nicht mehr.»
Das war ganz in meinem Sinne gewesen. Ihre damaligenFreunde gefielen mir nicht. In den ersten Wochen nach unserem Umzug holte ich Rena mittags von der Schule ab und fuhr sie heim. Wenn sie neben mir im Wagen saß, beschwerte sie sich nicht, aber ihre Miene sprach Bände.
«Sie läuft herum wie das Leiden Christi», sagte Jürgen oft.
Anne hatte sich auf der Stelle in unser neues Domizil verliebt. So viel Platz, ein Zimmer, aus dem man gut und gerne zwei hätte machen können, ein eigenes Bad. Und ein Freund mit einem fahrbaren Untersatz! Rena dagegen glaubte sich ans Ende der Welt verbannt. Sie langweilte sich an den Nachmittagen. Bis wir eines Sonntags bei einem Spaziergang an der Koppel vorbeikamen und sie das Energiebündel sah.
Mattho war damals noch ein Fohlen, vier Monate alt. Ein Baby, sagte Rena. Mit diesem Baby wurden die Freunde in der Stadt nebensächlich. Und der Schulbus, der unterwegs noch zwei andere Dörfer streifte, war eine Zumutung. Rena brauchte ein schnelles Fahrrad. Rena stellte Rekordzeiten auf, stürmte bereits eine Viertelstunde nach Schulschluss ins Haus und beschwerte sich, dass das Essen noch nicht auf dem Tisch stand. Dann schlang sie in aller Eile die Mahlzeit hinunter, verzog sich für eine halbe Stunde in ihr Zimmer, um die Schularbeiten zu erledigen. Danach verschwand sie, tauchte erst am Abend wieder auf, schwärmte uns mit leuchtenden Augen von Mattho und seinen ausgewachsenen Artgenossen vor.
Sie bettelte um Reitstunden. Jürgen kannte den Besitzer des Reitstalls und vereinbarte mit ihm eine Stunde pro Woche. Nur der Form halber. Rena war jeden Tag im Stall.
«Aber er will ja auch leben», sagte Jürgen.
Seitdem drehte sich für
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