Die Mutter
erzählt, dem bei der Überfahrt mit der Fähre garantiert auch schlecht geworden sei. Und dass sie leider nicht mehr über das Ziel seiner Reise wisse, nur England. Weil Udo einmal gesagt hatte, sie solle dem Teufel doch ein paar englische Wörter beibringen.
Ehe sie vom Bus weggegangen sei, hätte Rena noch gefragt, ob sie für Nita und André Menke etwas mitbringen solle. Eine PortionPommes oder eine Wurst. Zu Brühwurst gäbe es bestimmt ein trockenes Brötchen. Sie sei nicht zurückgekommen.
Die ganze Nacht hätten sie gewartet. Und am Morgen hätte André Menke gesagt: «Die sehen wir nicht wieder, jede Wette, die ist mit dem nächsten Zug Richtung Heimat.»
Und Nita hätte geantwortet: «Oder dem blöden Gaul hinterher, jetzt, wo wir ihr gezeigt haben, wie man’s macht.»
Bekleidet mit einem gelben Plastikumhang, ausgestattet mit fünfhundert Mark und dem Pass im Brustbeutel.
Drei Tage vor Weihnachten hörte ich das.
Es war ein trostloses Fest für uns. Für Regina Kolter dürfte es am Bett der sterbenden Tochter mehr Liebe gegeben haben. Es tut weh, sich daran zu erinnern. Ich habe so viel Gefühl zwischen zwei Menschen nie erlebt. Und ich dachte, unsere Welt wäre die bessere, die saubere gewesen.
Sauber war sie auch. Mutter brachte das Haus wieder auf Hochglanz, und sie war als Einzige bereit, mit mir zu sprechen. Über den Äther aus dem Biologieunterricht. Klinkhammer hat das selbstverständlich nachgeprüft. Drosophila melanogaster, winzig kleine Fruchtfliege. Man hatte sie für eine Projektwoche in einem Kölner Institut besorgt. Sie waren genetisch vorbehandelt und durften sich deshalb in Freiheit nicht fortpflanzen. Sie wurden im Äther ertränkt, wie Nita es mir erzählte.
Es war am Gymnasium eine große Flasche Äther abhanden gekommen. Diese Flasche hatten die Frankfurter Kollegen im Bus gefunden, das heißt die Scherben der Flasche. Den Spuren nach zu schließen, war sie bei Menkes Kampf mit dem oder den Unbekannten zerbrochen. Ob sie vor dem Kampf völlig, zur Hälfte oder gar nicht geleert war, ließ sich nicht feststellen. Im Bus gab es keine Rückstände von Äther.
Das war das Einzige, was sich noch überprüfen ließ. Klinkhammer vermutete, dass der Flascheninhalt im Freien ausgekippt wordenwar. Was Nita mir sonst noch erzählt hatte, hatte den gleichen Wert wie Udo von Wirths Geständnis.
Jürgen fühlte sich bestätigt. Vater und Anne stimmten ihm zu. Für sie hatte Nita mir nur auf Anweisung ihrer Mutter das Weihnachtsmärchen erzählt. Und Kemnich hatte mit Blacky seinen Teil beigesteuert.
Manchmal glaube ich, sie haben Recht. Aber manchmal denke ich: Wenn Nita Kolter mich nur belogen hat, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, um ein dreibeiniges Tischchen, ein paar Tarot-Karten und ein Schreibbrett auf eine solide Unterlage zu stellen, warum hat Nita dann den Überfall durch drei Skinheads und das nette kleine Häuschen in Grün und Blau nicht bestätigt?
Darüber hat sie gelacht. Es gab keine Skinheads. Es gab nur einen krummen Hund, der ihnen versprach, Stoff zu liefern. Was er brachte, reichte nicht einmal, um eine Mücke froh zu machen. Als André sich beschwerte und sein Geld zurückverlangte, kostete ihn das sein Leben. Und Nita beinahe das ihre, wäre Blacky nicht gewesen, die sich ihrer angenommen hatte.
Kemnichs Einfluss? Kaum! Nita wusste nichts von Blacky, erinnerte sich weder an eine Kommune noch an ihre Einlieferung ins Krankenhaus. Sie wusste nicht einmal mehr, dass sie die Frankfurter Polizei angerufen hatte. Der Schock über André Menkes Tod hatte eine beachtliche Lücke in ihr Gedächtnis gerissen, vielleicht noch verstärkt durch ihre Krankheit und die Sucht.
Nita Kolter wurde am 16. Januar beerdigt. Ich war dabei. Ich war auch vorher noch zweimal in der Klinik gewesen. Ich wollte ihr sagen, dass ich die Wahrheit verkrafte. Dass sie mich nicht auf Geheiß ihrer Mutter belügen muss. Dass sie gemein sein und mir erzählen durfte, sie hätten mein Pferdchen im Regen stehen lassen, wenn es denn so gewesen war. Nur konnte Nita mir nicht mehr anworten.
Und Paul, ich weiß nur seinen Vornamen – er war ein großer, kräftiger Mann mit aschblonden Haaren, den ich an ihr Bett gebrachthatte, sorgte dafür, dass ich das Zimmer verließ. Er begleitete mich hinaus. Vor der Tür sagte er, Regina Kolter hätte nur noch ein paar Tage mit ihrer Puppe, die solle ich ihr lassen. Ich hätte immerhin noch Hoffnung.
Ich weiß nicht, ob ich noch Hoffnung habe.
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