Die Mutter aller Stürme
draußen nicht viel.
Jesse bringt den Kindern Monopoly bei und stellt verdutzt fest,
wie schnell sie es lernen; er fragt sich, ob Naomi ihn deshalb als
Verderber der Jugend schmähen würde. Hoffentlich ist sie so
vernünftig gewesen, oben in Oaxaca zu bleiben! Weil sie keine
Nachrichten empfangen, wäre es immerhin möglich, daß
Oaxaca doch schwerer als erwartet in Mitleidenschaft gezogen wurde
oder daß die Nordküste sicher ist; weil eben keine neuen
Informationen hereinkommen, muß Jesse seine Hoffnungen auf die
Situation vor Ausbruch des Sturmes gründen.
Irgendwie mutet ihn der Anblick seltsam an, wie Mary Ann mit den
Kindern spielt. Er weiß, daß ihre Liaison vielleicht
nicht von Dauer sein wird. Es liegt nicht daran, daß sie
älter oder viel erfahrener ist als er – der eigentliche
Reiz hat darin bestanden, sich miteinander zu arrangieren.
Im Grunde liegt es an Jesse. Wie so viele Amerikaner Anfang
Zwanzig ist er noch nicht bindungsfähig; er empfindet zwar tiefe
Gefühle und Leidenschaft, aber keine richtige Liebe. Solange er
mit Leuten seiner Altersgruppe zusammen ist, fällt das auch
nicht weiter auf, aber wo Mary Ann Waterhouse – vorausgesetzt,
sie fände den richtigen Mann – sich durchaus vorstellen
könnte, jeden Morgen neben diesem Mann aufzuwachen, bis
daß der Tod sie scheidet, und somit weit in die Zukunft (und in
die Vergangenheit) extrapoliert, lebt Jesse wie ein Kind nach wie vor
nur in der Gegenwart. Er ist wohl imstande, Gefühle für
jemanden zu entwickeln und auch eine gewisse Kontinuität im
Umgang mit anderen an den Tag zu legen, aber die Fragen, die
verliebte Erwachsene sich stellen – einschließlich des
heiklen Punkts, ob man die Verbindung unter Umständen lösen
sollte – kämen Jesse nie in den Sinn.
Aber wenn er auch noch zu jung für die Liebe ist, ist er doch
schon alt genug, um das zu wissen, und als er Mary Ann ins Spiel mit
den Kindern vertieft sieht, wie sie eine antiquierte Tastatur
bearbeitet… da wird ihm bewußt, daß er, wenn er
schon soweit wäre, sie sofort nehmen würde.
Sofern sie ihn überhaupt haben wollte –
schließlich ist sie es, die am meisten in eine Beziehung
einzubringen hätte, nicht nur in finanzieller, sondern auch in
geistiger, seelischer und nicht zuletzt sexueller Hinsicht. Dies ist
indessen eine etwas schmerzhafte Erkenntnis.
Am späten Abend liegen Jesse und Mary Ann im
Obergeschoß in der Badewanne und schrubben sich im Kerzenlicht
gegenseitig den Rücken; durch das Oberlicht sehen sie den
sintflutartigen Regen, der zuweilen durch die flackernden Kerzen
angestrahlt wird. Jesse schätzt den Stand des Wassers über
dem Oberlicht auf mehrere Zentimeter; von hier unten wähnt er
sich direkt auf dem Meeresgrund.
Sie legt den Kopf auf ihre Schulter, und Jesse registriert mit
Wohlgefallen, daß trotz der nach wie vor unnatürlichen
Rotfärbung ihres Haars am Ansatz ein strohblonder Farbton zum
Vorschein kommt; um ihre natürliche Haarfarbe wiederzuerlangen,
müßte sie sich einen Bürstenschnitt verpassen lassen,
aber es wäre immerhin möglich.
Während er ihr den Rücken schrubbt, stellt er fest, wie
zierlich sie doch ist und begreift, daß sie die Stelle beim XV
gerade wegen ihrer zarten Statur bekommen hat. Beim Einseifen
ertastet er ihre operativ verkürzten Rippen, den
Innengürtel, die zusätzlichen Bänder zur
Abstützung der enormen Brüste und die verheilten
Operationsnarben. Er versucht, sich über seine Gefühle
angesichts all dieser Narben und Male klar zu werden, als er mit den
Händen darüberfährt; er würde gern sagen, es
gefiele ihm, weil es ein Teil von ihr ist, aber das stimmt einfach
nicht – genauso wenig verspürt er jedoch Zorn über
das, was ›ihr angetan‹ wurde, denn schließlich hat
sie es ja freiwillig machen lassen und ist außerordentlich gut
dafür honoriert worden. Manchmal glaubt er, daß ihm die
Berührung ihrer Narben und ›Anbauteile‹ gefällt,
weil es ihr etwas Puppenhaftes verleiht, aber das stimmt auch nicht
– ihr Körper wirkt einfach fremder auf ihn als die
Körper anderer Frauen.
Vielleicht gefällt es ihm auch nur, Mary Ann zu
berühren, vor allem an den ungewöhnlichsten Stellen.
Sie hingegen wäscht ihn gründlich und mit etwas
Nachdruck – er hat ihr schon oft gesagt, er würde sich
›gestriegelt‹ vorkommen, und sie hat ihm mindestens genauso
oft zu verstehen gegeben, daß es ihr Spaß macht. Nachdem
sie sich abgetrocknet und auf dem Bett ausgestreckt haben, gleiten
sie mit
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