Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
Vom Netzwerk:
anderen
auch, und irgendwie hat das… nun, etwas Demokratisches.
    Dann fragt sie sich, ob die Tatsache, daß sie sich über
den Körpergeruch anderer Menschen echauffiert, nicht vielleicht
ein Ausdruck unterschwelligen Rassismus sei. Neben einem Regal hat
sie sich aus alten Badetüchern ein Lager bereitet, und auf
diesem rollt sie sich nun zusammen und ergeht sich eine Zeitlang in
Selbstanklagen – sie weiß nämlich, daß die
Leute hier alle reinlich sind und daß die Dusche am Abend auch
Bestandteil ihres Lebens ist…
    Und jetzt quält sie die Frage, ob die Kenntnis der Tatsache,
daß dies eine ›gepflegte‹ Kultur ist, nicht auch
latenten Rassismus darstellt.
    Dann erinnert sie sich daran, daß sie vor zwei Tagen, als
sie schon glaubte, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen,
den Vorsatz gefaßt hatte, sich nicht mehr mit solchen
Überlegungen zu belasten. Und nun ist sie wieder unter Menschen.
Zeit, ein neues Leben zu beginnen, wie auch immer es aussehen wird.
Mit diesem angenehmen Gedanken driftet sie in einen süßen
Schlummer ab.
    Als sie erwacht, laufen die Leute alle durcheinander, und es
dauert eine Weile, bis sie den Unterschied bemerken: es ist weder
Regen noch Wind zu hören. Sie springt auf, um sich sofort der
Rettungsmannschaft anzuschließen. Es wird wohl noch eine
Zeitlang dauern, bis sie die alten Gewohnheiten abgelegt hat, aber
sie wird es schon schaffen.
    Bis dahin wird sie ihren Beitrag leisten, sich aber nicht wie
Mutter Teresa gebärden.
    Die vordringlichste Aufgabe besteht zunächst sowieso darin,
die Außentür aufzustemmen, und das ist harte
Knochenarbeit. Zum Glück gibt es etliche Männer in der
Gruppe, und als sie erst einmal ermittelt haben, daß bloß
etwas Schweres auf der schrägen Kellertür liegt, wissen
sie, daß sie wohl mit einigen kräftigen Stößen
freikommen werden.
    Sie verwenden einen Balken als Rammbock und hoffen, dadurch die
Tür von ihrer Last zu befreien. Niemand wirkt sonderlich
beunruhigt – es besteht keine unmittelbare Dringlichkeit, den
Schutzraum zu verlassen, und überhaupt dürften die
Bergungstrupps schon unterwegs sein.
    Als alle Männer sich auf der niedrigen Treppenflucht
unterhalb der Tür postiert haben, schwingen sie den Rammbock und
lassen ihn bei jedem dritten Schwung gegen die Stahltür krachen: ›Uno, dos, tres!‹ Bumm! Daraufhin wird das
nächste ›uno, dos, tres!‹ von rutschendem
Schutt übertönt.
    Als das achte Bumm durch den Keller hallt und dumpf von den
Lehmwänden verschluckt wird, dringt ein greller Blitz durch die
Tür, und die Männer taumeln mit einem Schrei zurück,
wobei sie den Balken fallen lassen und die Hände vors Gesicht
schlagen. Es folgt eine unheimliche Stille, als alle sich fragen, was
draußen wohl auf sie wartet; in ihren Angstphantasien
verquicken sich Bilder der von Atombomben zerstörten Städte
– Hiroshima, Nagasaki, Port-au-Prince, Kairo, Damaskus,
Washington, und einen schrecklichen Augenblick lang glauben sie, ein
Atomkrieg sei ausgebrochen…
    »El sol«, sagt eine alte Frau neben Naomi, und dann
flüstert die Menge im Keller wie in Trance »el sol«,
woraufhin alle in Gelächter ausbrechen.
    Das helle Sonnenlicht blendet die Menschen, die sich viele Stunden
im Dunklen aufgehalten hatten. Die Männer wenden den Blick von
der Tür ab und schwingen erneut den schweren Balken, zwölf
Schwünge, vier Treffer – und bei diesem letzten Treffer
ertönt ein Stöhnen und Rumpeln, wie entfernter Donner, und
etwas rutscht kratzend die Tür hinab und fällt krachend zur
Seite.
    Einer drückt gegen die Tür – und sie fliegt
auf.
    Als das helle Licht hereinflutet, erfolgt ein kollektives
Aufstöhnen, und alle schlagen die Hände vors Gesicht, aber
die Wärme und Trockenheit sind so verlockend, daß sie mit
beschirmten Augen und gesenktem Kopf ins Freie treten.
    Naomi torkelt zusammen mit den anderen nach draußen, wobei
sie die Augen mit dem Unterarm beschattet, nur auf ihre
Füße schaut und der Menge hauptsächlich aufgrund des
Tastsinns folgt. Dann betritt sie die erste Stufe.
    Nach dem ohrenbetäubenden Tosen des Sturmes und der
Grabesstille im Keller dringt nun ein solcher Lärm auf sie ein,
daß sie nicht imstande ist, die verschiedenen Geräusche zu
sortieren.
    Als sie jedoch den Treppenabsatz erreicht hat, hört sie
aufgeregte Rufe. Sie nimmt den Arm herunter und sieht vor sich ein
Fahrzeugwrack.
    Das war einmal ein kleines Automatik-Auto gewesen; vielleicht
hatten die Kinder beim Versuch, nach Hause zu

Weitere Kostenlose Bücher