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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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fahren, aus Versehen
die Steuerautomatik deaktiviert. Das Auto verfügt über
einen Not-Aus-Schalter für das Radar/Ultraschall-System, welches
das Fahrzeug automatisch steuert – aber manchmal fallen diese
Systeme auch ohne ersichtlichen Grund aus, insbesondere dann, wenn
auf manuelle Steuerung umgeschaltet wird. Aber selbst dann
hätten die Kinder das Auto noch sicher zum Stehen bringen
können. In diesem Augenblick hat der Sturm das Fahrzeug wohl
erfaßt und durch die Gegend geschleudert.
    Sie waren nicht angeschnallt, und dem Zustand des Dachs und der
Motorhaube nach zu urteilen, hat das Gefährt sich mehrmals
überschlagen. Die vom Sturm sandgestrahlte Karosserie ist
völlig lehmverschmiert; es gelingt Naomi nicht, die
ursprüngliche Farbe zu identifizieren.
    Die Kinder liegen reglos da wie Puppen; sie sind in dem sich
überschlagenden Fahrzeug umhergeschleudert worden und weisen
überall Quetschungen auf; ihre Hemden sind blutverkrustet. Arme
und Beine sind so zertrümmert, daß sie überhaupt
nicht mehr wie menschliche Gliedmaßen wirken.
    Die Gesichter sind nicht zu identifizieren; nachdem die Knochen
zerschmettert wurden, sammelte sich das Blut in der unteren
Gesichtshälfte, so daß die maskenhaft deformierten
Gesichter der beiden eine schwarzblaue Färbung angenommen
haben.
    Einige Umstehende schreien auf, und es entbrennt eine
Auseinandersetzung darüber, was nun zu tun sei. Kurz darauf
werden die Kontrahenten der Entscheidung enthoben; zwei Polizisten
nähern sich über einen Trümmerhaufen.
    Die Leute werden aufgefordert, sich um ihre eigenen Belange zu
kümmern und ›den Anschein von Plünderungen zu
vermeiden‹, was wohl bedeutet, daß sie sich ruhig
verhalten und nicht den Eindruck erwecken sollen, als ob sie etwas
stehlen würden. Wie es heißt, wird die Armee morgen
früh hier eintreffen; Fragen, was die Soldaten so lange
aufgehalten hat, beantworten die Polizisten mit Achselzucken, und als
einige Leute diese Frage etwas nachdrücklicher wiederholen,
rollen sie nur die Augen. Kenn’ sich einer mit der Armee
aus.
    Freiwillige beziehungsweise Leute, deren Besitz völlig
vernichtet ist, werden gebeten, sich zum Zócalo zu begeben und
sich dort den Rettungsmannschaften anzuschließen.
    Naomi hält hier nichts, so daß sie wie
selbstverständlich zum Zócalo geht, und doch stimmt etwas
nicht, denn als sie dort ankommt, stellt sie fest, daß die
meisten ›Freiwilligen‹ überhaupt nichts tun. Vielmehr
sitzen sie herum, manche desorientiert, manche verzweifelt, und
manche sitzen nur da und warten darauf, daß sich jemand ihrer
annimmt. Sie weiß nicht recht, was sie davon halten soll. Es
ist nicht einfach, die Leute, die vielleicht nicht einmal sich selbst
helfen können, von den anderen zu unterscheiden, die aus
irgendwelchen anderen Gründen nichts tun.
    Außerdem fällt ihr auf, daß der Zócalo nun
wieder vom warmen Licht der Sonne beschienen wird. Der
fürchterliche Sturm hat ihn blankgefegt und die Trümmer in
alle Richtungen verweht – Tehuantepec gleicht jetzt in der Tat
einer Ruinenstadt –, und die Palmen, die den kleinen Platz
früher gesäumt hatten, sind abgeholzt worden und liegen
zersplittert im Schmutz, aber der Boden selbst ist angenehm warm, und
es überkommt sie die Anwandlung, sich in der Sonne auszustrecken
und ein ausgiebiges Nickerchen zu machen.
    So sehr hat sie sich nun auch nicht verändert; sie
verspürt mittlerweile wieder Langeweile, und fünf Minuten
später registriert sie mit großer Erleichterung, daß
der Lkw mit den Freiwilligen wieder vorfährt.
    Sie wird einer nur aus Frauen bestehenden Rettungsgruppe
zugeteilt, die den Auftrag hat, an Trümmerhaufen Horchposten zu
beziehen. Sie sollen sich Töpfe oder Pfannen als
Resonanzkörper an die Ohren halten, um so Bewegungen oder
Hilferufe von Verschütteten zu orten.
    Der stürmische Wind hatte die Trümmerhaufen wie
Dünen mit hohen Kämmen formiert. Jetzt, wo der Sturm sich
gelegt hat, bröckeln die meisten von ihnen ab und zerfallen.
Außerdem sind manche Objekte in diesen Haufen sehr instabil und
bewirken einen konstanten Abbau der rutschenden Schutthalden. Sie
haben erst ein paar Trümmerhaufen durchsucht, als ihnen
bewußt wird, daß die Suche sinnlos ist, solange sie
niemanden schreien oder weinen hören; um eventuelle
Überlebende zu bergen, ist es daher am besten, die Halden
gleichzeitig zu durchsuchen, und zwar so schnell wie
möglich.
    Nachdem die Frauen bereits über ein Dutzend
Trümmerhaufen durchsucht

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