Die Mutter aller Stürme
haben – Tehuantepec hat sich in
ein aus Fundamenten und Schutthalden bestehenden Ruinenfeld
verwandelt –, hören sie plötzlich ein Schluchzen.
Schweigend graben sie mit Hacken, Spaten und Brechstangen, in
ängstlicher Erwartung dessen, was sie wohl vorfinden werden
– wird der Mensch, den sie ausgraben, so schwer verletzt sein,
daß er die Bergung nicht übersteht oder sie nicht einmal
mitbekommt? Werden sie ein hilfloses Kind bei seiner toten Mutter
finden?
Schließlich stoßen sie auf den Leichnam eines Mannes;
dem grauen Haar auf dem zertrümmerten Schädel nach zu
urteilen muß er schon älter gewesen sein; wenn er durch
einen der herumliegenden Trümmerbrocken erschlagen wurde,
dürfte er nicht lange gelitten haben.
Der schwere Körper ist weich und biegsam; irgendwo hatte
Naomi einmal gelesen, daß die Totenstarre nicht sehr lange
anhält, oder vielleicht lag es auch nur daran, daß er
unter den nassen Trümmern begraben war. Die Leiche riecht nicht
verwest, aber als die Frauen sie bergen, fühlt sie sich kalt und
glitschig an. Sie müssen zu viert anpacken – er wird sicher
seine 120 Kilo gewogen haben –, wobei Naomi ihn an den Knien
faßt, was ein hartes Stück Arbeit ist. Dann legen sie ihn
in einer der vom Wind geschlagenen Schneisen zwischen den
Schutthalden ab und stecken ihn in einen der Plastiksäcke,
welche die Polizei von Tehuantepec den Bergungstrupps mitgegeben
hat.
»Sollen wir ein Gebet für ihn sprechen?« fragt eine
der Frauen.
»Überlassen wir das den Priestern – die werden auch
bald hier sein«, erwidert eine andere, und dann schließen
sie sich wieder ihrer Abteilung an, die währenddessen stetig
weitergegraben haben.
Sie haben die Geräuschquelle fast erreicht, als sie ein
Wimmern hören – Schreie eines Babys? Sollte etwa ein Baby
unter diesen Trümmern überlebt haben? Naomi hat schon alle
möglichen improvisierten Kinderwagen gesehen, und wenn das Baby
in einem metallenen Gestell oder sogar in einer Badewanne
lag…
Sie rennen alle los, um zur Stelle zu sein, wenn das Kind geborgen
wird.
»Unter diesem Metall!« ruft eine Frau, und nun entfernt
die ganze Truppe vorsichtig den Schutt von dem verrosteten Wellblech,
um die Last so verringern, daß sie das Metall anheben
können. Obwohl sie schnell arbeiten, scheint es eine Ewigkeit zu
dauern. Schließlich versammeln sie sich alle um das Wellblech,
um es anzuheben…
Langsam heben sie es hoch und werfen es die Halde hinunter.
Eine hysterisch miauende Katze kommt zum Vorschein und
verschwindet.
An diesem Tag gehen sie noch vier weiteren Geräuschquellen
nach. Zweimal stoßen sie dabei auf Trümmer, die zu schwer
für sie sind; sie müssen Bulldozer, Kräne und Winden
anfordern, und sobald die Mannschaft mit dem Gerät vor Ort ist,
setzen sie die Suche nach weiteren Überlebenden fort. Einmal
bergen sie ein Schwein. Ein anderer Trümmerhaufen fällt
mitten beim Graben zusammen und bringt die Geräusche zum
Verstummen; obwohl sie intensiv weiterarbeiten, finden sie den
Ursprung der Geräusche nicht.
Sie bergen so viele Tote, daß sie zweimal Nachschub an
Plastiksäcken benötigen. Gegen Abend, als die Hitze die
Trümmer getrocknet hat, verstärkt sich der Leichengeruch.
Naomi hatte einmal ein Zimmer mit einer Studentin geteilt, die nur
vorgab, Vegetarierin zu sein; beim Auszug hatte sie ein Pfund
Hamburger im Kühlschrank vergessen, und genauso stinken auch
diese Leichen. An der Luft entfaltet sich der Gestank der Exkremente
und der metallische Geruch des Blutes erst richtig, so daß ihr
eine Mischung aus diesen drei Duftnoten in die Nase steigt. Sie
befürchtet, daß dieser Gestank sich auch im Haar und in
der Kleidung festsetzt, und sie hat sich noch nie so sehr nach einem
Bad gesehnt wie jetzt.
Als sie in der Abenddämmerung zum Zócalo
zurückkehren, ist die Armee bereits angetreten und hat Zelte mit
Duschen und eine Feldküche aufgebaut, die Suppe und Brot
ausgibt. Wenn Naomi an der Dusche etwas beanstandet, dann nur die
Tatsache, daß sie nicht die ganze Nacht darunter stehen kann;
die vielen sich abschrubbenden Leute erinnern sie an die
Gemeinschaftsdusche für Erstsemester im Studentenwohnheim.
Als es dann richtig dunkel geworden ist, sitzt Naomi mit dem
Rücken an der Mauer der Kathedrale und verspeist eine Notration
der Armee. Wie viele andere auch hat sie sich schon mehrmals einen
Nachschlag geholt – die Soldaten mögen zwar erst spät
eingetroffen sein, aber wenigstens sind sie gut ausgerüstet.
Vielleicht
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