Die Mutter aller Stürme
Moment aber lieber nicht.
Die Kathedrale steht noch, außerdem sechs oder sieben
weitere Gebäude – und das war dann auch schon alles.
Ansonsten ist Tehuantepec eine Ruinenstadt, deren Fundamente mit
Schutt übersät sind. Die Stadt wird wieder auferstehen,
sagt sie sich – sie befindet sich an einem natürlichen
Knotenpunkt, und die Straßen existieren auch noch – aber
bis auf den Namen wird die neue Stadt Tehuantepec mit der alten
nichts mehr gemein haben.
Es wird schon heiß, aber der Marsch auf der staubigen
Straße ist immer noch besser als die Suche nach
Verschütteten. Sie läuft los, um den Anschluß an ihre
Gruppe nicht zu verlieren.
Um die Mittagszeit ist sie schon wieder müde; die Gruppe hat
ein Tempo vorgelegt, bei dem sie kaum mithalten kann; sie will sich
jedoch nicht beklagen, denn die anderen mögen sie nicht. Die
Gruppe besteht anscheinend aus Studenten der Universität von
Ciudad de Mexico und einigen Kommilitonen der
Juárez-Uni-versität, und obwohl man annehmen sollte,
daß Studenten die eigentlichen Kosmopoliten sind, zumal in
dieser Zeit, wo VTOL-Flugzeuge und Ziplines die Welt zu einem
Dorf schrumpfen lassen und die riesigen Datennetze und XV-Sender
nicht nur akustische Verbindungen ermöglichen, sondern auch
direkte Kontakte von Gehirn zu Gehirn, verhält es sich so,
daß die Studenten auch die Touristen mit dem
ausgeprägtesten politischen Bewußtsein und dem
schlechtesten Benehmen sind. Kompromißfähigkeit und ein
Verständnis für fremde Kulturen müssen sie erst noch
lernen.
Von den acht Leuten in ihrer Gruppe scheinen vier der Ansicht zu
sein, die yanquis trügen die Verantwortung für die
Hurrikane, wobei jeder ihr eine detaillierte Begründung
hierfür liefern will. Früher hätte sie ihnen einfach
zugestimmt, eine mit ›Es verdad‹ beginnende
Gegendarstellung gebracht und schließlich die Werte und
Analysen der Gegenseite korrigiert. Jetzt ist es ihr jedoch
scheißegal.
Außerdem formuliert sie ihre Erwiderungen nicht mehr im
Geiste vor, so daß sie sich stärker auf die
Ausführungen der anderen konzentriert, auf ihre eigene Position
und die Fakten. Wenn es um abstrakte Erörterungen geht, mag das
vielleicht funktionieren, aber im konkreten Kontext ist es
anstrengend. Sie scheinen sich an ihrem Ärger zu weiden und
beleidigen sie noch dazu. Ihr fällt auf, daß die
Verurteilungen des imperialismo mit vielen Blicken auf die
unter ihrer Bluse wippenden Brüste einhergehen. Noch vor wenigen
Tagen hätte sie sich bemüht, beide Aspekte analytisch zu
verknüpfen und es ihnen aufgrund der allgemeinen
Unterdrückung dieser Menschen nachzusehen, aber nun hat sie das
Gefühl, daß sie nur in ihrer Eigenschaft als Frau
schikaniert wird und daß imperialismo diese Kerle im
Grunde gar nicht interessiert. Und auch sonst nicht viel, außer
Priorität Eins (nach Oaxaca zurückzukehren) und
Priorität Zwei (die Titten der gringa anzustarren).
Und sie wollen sie gleichzeitig dafür bestrafen, daß
sie sie sexuell zurückweist, daß sie eine puta ist.
Außerdem glaubt sie, daß es hier viele wirkliche Opfer
des imperialismo gibt – sie hat lange Zeit mit ihnen
gearbeitet –, aber diese Kinder verdanken ihre gesellschaftliche
Stellung nur ihrer Position an der Schnittstelle zwischen der
eurozentrischen, kapitalistischen Machtstruktur und der
bäuerlichen Unterschicht. Wenn die Industriegesellschaften
morgen verschwinden würden, wären diese Typen so
bedeutungslos wie ein Furz in einem Sturm, um ein Bonmot von Jesse zu
benutzen.
Jetzt erlebt sie zum erstenmal, daß Leute sich in
politischen Diskussionen echauffieren, daß die
Gesprächspartner persönlich werden und oft vorsätzlich
die Gefühle anderer verletzen. Ihre zum Beispiel.
Bisher ist die Straße leer und still gewesen, und ungeachtet
der Warnungen des Leutnants vor Plünderern und den allgemeinen
Gefahren, vor allem für alleinreisende Frauen, hat sie in den
letzten Stunden keine Menschenseele gesehen. Die Beine schmerzen
schon von dem Versuch, mit diesen Kerlen Schritt zu halten, und
langsam geht ihr die Puste aus. Es ist noch so lange hell, daß
sie Ixtepec auch in einem gemächlicheren Tempo erreichen
wird.
Naomi schluckt. Jetzt wird es hart. Sie muß etwas nur
für sich selbst tun; anscheinend wird kein anderes
Gruppenmitglied müde oder belästigt, so daß sie
niemanden außer sich selbst verteidigen kann. Sie hat einen
Frosch im Hals, weshalb sie nach dieser Entscheidung noch einen
ganzen Kilometer läuft, ohne etwas
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