Die Mutter aller Stürme
hat die Armee aber auch nur nicht mit so vielen
Todesopfern gerechnet.
Ein Mann liest auf spanisch laut Meldungen von einem Monitor ab,
so daß jeder hört, daß ›Clem Zwei‹ in die
Karibik durchgebrochen ist und sich über den Inseln austobt,
wobei er alle paar Stunden einen weiteren Hurrikan erzeugt.
Sie muß an Jesses Bruder Di denken und fragt sich, ob der
arme Kerl diese Woche wohl die Gelegenheit bekommt, seine Kinder zu
sehen. Dann denkt sie an die vielen toten Kinder, die sie heute
gesehen hat und an die etwa hundert verlassenen Kinder, deren Eltern
sehr wahrscheinlich umgekommen sind, und die jetzt
zusammengedrängt in einem großen Zelt auf der anderen
Seite des Zócalo sitzen, während ein gutmütiger
älterer Feldwebel jedem einzelnen Kind immer wieder die gleichen
Fragen stellt.
Es ist ihr zwar peinlich, aber sie bricht in Tränen aus, und
als die ältere Frau neben ihr den Arm um sie legt, weint Naomi
sich an ihrer Schulter richtig aus. Die Tränen sind noch nicht
ganz versiegt, und sie fühlt sich noch immer elend, als sie sich
in eine der auf dem Boden ausgebreiteten Decken einwickelt.
Sie träumt vom ehemaligen Tehuantepec und seinen staubigen
Straßen, den liebevoll gepflegten Häuschen, den
melodischen Stimmen, den warmen Braun- und Rottönen, die sich
gegen den dunklen Nachthimmel abhoben – und in ihren
Träumen wandert sie durch eine menschenleere Stadt, wo vor jedem
Haus eine Anzahl weißer Kreuze steht. Sie möchte die
Menschen aus den Häusern rufen, aber obwohl sie schon seit
vielen Monaten hier arbeitet und sich in der Stadt bestens auskennt,
fällt ihr nur der Name ihrer Mutter ein.
Irgendwann verschwinden diese Träume, und sie fällt in
eine mehrere Stunden dauernde gnädige Bewußtlosigkeit,
bevor die Soldaten die Leute wecken und ihnen ein schnelles desayuno mit Brötchen, Fruchtsaft und Kaffee servieren.
Auf die Wurst verzichtet sie, obwohl sie den Geruch noch nie so
verführerisch gefunden hat. Es ist ein wahres Festmahl, aber
warum ist sie nur so hungrig, wo sie doch am letzten Abend erst so
viel gegessen hatte? Vielleicht sind ihre Lebensgeister doch so
stark… und vielleicht haben sie sich bisher nur noch nicht
richtig entfaltet.
Nach dem Frühstück erwägt sie zwei
Möglichkeiten: sie könnte hierbleiben, für weitere
zwei Tage mit den Rettungsmannschaften arbeiten und sich so einen
Platz auf einem der Militär-Lkw sichern, die wieder nach Oaxaca
City zurückfahren; oder aber sie könnte sich den
Flüchtlingen anschließen und die fünfunddreißig
Kilometer zum Zipline- Kopfbahnhof nach Ixtepec marschieren.
Wie es heißt, soll der Zipline schon wieder fahren.
Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob die Armee, von der
sie zumindest weiß, daß sie Fahrzeuge hat, oder die
Regierung mit ihrem Zipline- Monopol, wobei man jedoch nie
weiß, ob die Ziplines auch funktionieren,
zuverlässiger ist. Schließlich entscheidet sie sich
für den Marsch; zum Teil deshalb, weil die Armee sie schon
einmal im Stich gelassen hat und sie nun den Lineas Rápidas
Mejicanas die Chance geben möchte, sie im Stich zu lassen, und
hauptsächlich deshalb, weil sie nach ihrer Entscheidung, sich in
ihrem Leben mehr Egoismus zu gönnen, sich nicht mehr
verpflichtet fühlt, ihre Zeit mit dem Ausbuddeln von Leichen zu
vertun. Vielleicht wird sie nach der Ankunft in Oaxaca ihren Vater
anrufen und ihm sagen, daß es ihr gutginge. Vielleicht wird er
dann fortan auf den Vortrag verzichten, sie würde ihm nicht mehr
bedeuten als jeder andere Mensch auf Erden. Er sagt immer, alles
Leben sei wertvoll, und sie habe durchaus ihren Stellenwert, aber die
Erde selbst habe Vorrang vor allem anderen. Ihre Mutter vertritt
diesen Standpunkt auch.
Nachdem sie diesen Entschluß gefaßt hat,
schließt sie sich einer Gruppe an und begibt sich auf den
langen Marsch. Von der Kuppe des ersten Hügels hatte man immer
einen guten Blick über die Stadt – sie liebte das
frühmorgendliche Panorama, wenn sie auf den Sechs-Uhr-Bus
wartete und die warme Sonne die Stadt in ein goldenes Licht tauchte,
das mit dem tiefblauen Himmel kontrastierte. Als sie jetzt nach unten
schaut, stellt sie fest, daß sie eine schöne Aussicht auf
die Ruinen hat.
Aber zumindest ist die Gegend nicht bis auf den blanken Fels
abgetragen worden, wie es auf Hawaii der Fall war. Das hätte
eine Sturmflut vorausgesetzt, aber zum Glück ist Mexiko ein
gebirgiges und felsiges Land; an das Schicksal der Hafen- und anderen
Küstenstädte denkt man im
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