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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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viel Zeit im Bett‹ verabredet, wenn er wieder auf
der Erde weilt und sie sich in der Nähe eines Hafens befindet;
bis es soweit ist, könnten indessen noch zwei Jahre
verstreichen, aber keiner von beiden hat es eilig.
    Vielleicht wird sie später am Abend noch Louie anrufen. Er
scheint sich immer über ihren Anruf zu freuen, und der letzte
liegt immerhin schon ein paar Wochen zurück.
    Soviel zu dem Entschluß, nicht an ihn zu denken.
    Das Armband-Telefon klingelt. Es ist Henry Pauliss, und er hat
ziemlich erstaunliche Neuigkeiten; zumindest wird sie der
Entscheidung enthoben, was sie in den kommenden Wochen mit ihrer Zeit
anfangen soll.
     
    Als XV im Jahre 2006 auf den Markt kam, haftete ihm von Anfang an
der Makel an, eine noch höhere Suchtgefahr aufzuweisen als das
Fernsehen. Andererseits wurde es wegen seiner Eigenschaft
gerühmt, jeden der Erfahrung teilhaftig werden zu lassen,
wie etwas gemacht wird und ihn in die Lage zu versetzen, es auch
selbst zu tun. Man konnte das Bewußtsein eines Kindes aus dem
Getto auf einen Ingenieur übertragen und ihm dadurch ein
Gefühl für die Befriedigung vermitteln, die aus dem
erfolgreichen Entwurf einer Turbinenschaufel resultierte, für
die pure Freude, das reale Objekt in Händen zu halten, das
soeben aus dem CAD/CAM-Laden kam, das Kind dann wieder im
Klassenzimmer absetzen und sagen: ›Und für solche Sachen
braucht ihr Mathe.‹ Man konnte einer dicken, schüchternen,
lächerlichen Trauergestalt die Erfahrung von Attraktivität
und Selbstbewußtsein vermitteln und ihm dann sagen: ›Ein
solcher Mensch kannst du auch werden, wenn du ins Fitneßstudio
gehst und einen Kurs für Persönlichkeitsentwicklung
besuchst.‹
    Außerdem konnte man einen gefühllosen Psychopathen in
eine Opferrolle versetzen. Dies war indessen das Experiment, welches
den Schwachpunkt des ganzen Konzepts entlarvte.
    Auf legalem Wege dauerte es mehrere Jahre, bis sie die Genehmigung
erhielten, den Versuch mit einem Häftling durchzuführen.
Beim ersten Mal war es purer Zufall, daß eine XV-Reporterin
vergewaltigt, verstümmelt und als vermeintlich tot
liegengelassen wurde, während das Aufzeichnungsgerät
mitlief. Viele Experten vertraten die optimistische Ansicht,
daß, wenn Gewohnheitsverbrecher auf diesem Band festgehalten
wurden und wirklich begriffen, was sie ihren Opfern antaten, sie in
sich gehen würden.
    Es verhielt sich indessen so, daß sie sich, wenn sie einmal
das Entsetzen und den Schmerz am eigenen Leibe erfahren hatten, mit
um so größerem Genuß an weiteren Opfern vergingen.
Es war genau der Effekt, den sie sich erhofft hatten. Ein ehemaliger
Insasse eines Mustergefängnisses wurde durch das XV-Band so
erregt, daß er auf dem Rückweg zu seinem Zellenblock einen
unbewaffneten männlichen Wärter vergewaltigte.
    Alle großen Zyniker der menschlichen Rasse, angefangen bei
Lao-Tse über Ben Jonson bis zu Simone de Beauvoir, hätten
das vorhersagen können, aber Zynismus ist eine vernünftige,
zivilisierte Geisteshaltung. Um inmitten endloser Gewalt
überleben zu können, muß man geheiligte Prinzipien
haben, die zur Rechtfertigung der Gewalt dienen. Am Ende des
zwanzigsten Jahrhunderts, dem grausamsten der Menschheitsgeschichte,
gab es nur noch Idealisten. Selbst beim Aufkommen des zwangsweisen
Gedächtnisentzuges und der üblen Vergewaltigung auf
Bestellung war XV, wie alle anderen Medien auch, praktisch immun
gegen Zensur geworden. Die Technik – und die Gelüste
Tausender Nachahmer jeglicher Couleur – verhinderten einen
solchen Eingriff.
     
    Berlina Jameson hat einen schlechten Tag. Charlie, der Idiot von
Stations-Manager, hat es aufgegeben, sie anzuschreien, aber dann hat
er Candice, die Eigentümerin der Station, ans Telefon geholt,
die sie dann anschrie, was deprimierend war, insbesondere deswegen,
weil es immer der gleiche Sermon ist – sie bekommt keinen
Freizeitausgleich, keine Spesenerstattung und auch sonst nichts
für diese ›verrückte Idee‹.
    Sie will die Stelle nicht kündigen, weil das sofort in den
öffentlichen Datenbanken vermerkt würde, und Berlina bewegt
sich extrem dicht am Kreditlimit, so daß alle über sie
herfallen würden, wenn sie ihren vierten Job in drei Jahren
kündigte.
    Und doch ist die Vorstellung an sich höchst verlockend. Im
Kopf hört sie wieder die vertrauten Stimmen, selbst als Candice
sie zusammenstaucht…
    ›Hier ist Edward R. Murrow mit einem Bericht aus London. Ein
weiterer deutscher Bombenangriff, mit mehr Flugzeugen, als wir

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