Die Mutter aller Stürme
bisher
erlebt haben…‹
›Hier spricht Walter Cronkite aus Houston. Heute nacht, wenn
alles reibungslos funktioniert, werden die ersten Menschen auf dem
Mond landen…‹
›Wendy Lou Bartnick berichtet – ich stehe ungefähr
sechseinhalb Kilometer von dem glühenden Krater entfernt, wo
sich zuvor Port au Prince befand. Nur der flammende Himmel spendet
Licht – es gibt keine Elektrizität oder Anzeichen von
Scheinwerfern außer meinen eigenen…‹
Diese Bänder werden allesamt in ihrem Kopf abgespielt, wie
sie sie so oft in ihrem Leben auf ihren Audio-/Videosystemen
abgespielt hat, daß sie jedes Wort und jedes Bild auswendig
kennt. Viele Jugendliche brüsten sich damit, daß sie in XV
eintauchen können, ohne sich mit Cyber-Brille und
Datenhandschuhen von der Außenwelt zu isolieren, so daß
sie gleichzeitig real und virtuell existieren. Berlina ist der
Ansicht, daß sie sie darin noch übertrifft – sie ist
imstande, Funk und Fernsehen im Kopf zu empfangen, alle bedeutenden
Sendungen der letzten neunzig Jahre, gefolgt vom verführerischen
Raunen einer neuen Moderatorin:
›Hier ist Berlina Jameson mit einem Bericht
aus…‹
Ihr Name in einem Atemzug mit Murrow, Shirer, Sevareid, Cronkite,
Donaldson, Walters, Bartnick…
Sie bemüht sich nach Kräften zu vergessen, daß
Bartnick noch gar nicht so alt ist, aber bereits in den Ruhestand
versetzt wurde, nur ein paar Jahre, nachdem sie aufgrund der
Berichterstattung aus Port-au-Prince als Moderatorin bei CNN
angestellt wurde. XV war der Totengräber der
Fernseh-Nachrichten.
Es ist auch kein TV-Moderator zu XV gewechselt. XV verkörpert
alles, was die alten Nachrichten nicht darstellten. Der Kollege, der
zu Recht gefeuert wurde, als er anläßlich der Explosion
der Hindenburg hysterisch wurde, hätte beim XV eine satte
Gehaltserhöhung eingestrichen. Beim XV geht es darum, daß
der Hormonspiegel steigt… Hormone werden ausgeschüttet,
schwing das Tanzbein, der Tanz-Kanal… sieh nicht zu, sei
dabei, Extraponet… Nachrichten, zu denen man tanzen kann,
Passionet.
Diese Gedankenkette ist zwar alt, aber zumindest lenkt sie ihre
Überlegungen von Candice ab.
»Berlina, ich verstehe nicht, warum ich dir nicht begreiflich
machen kann, daß wir heute nicht neunzehnhundert-fuck-
achtundsechzig haben, und es hat keinen Sinn, mit Kamera und
Mikrophon zu arbeiten, wenn XV die Menschen direkt an den Ort der
Geschehnisse versetzt.« Candice stößt eine
große Rauchwolke aus; Berlina hat einmal einen flüchtigen
Blick auf die Inhaltsstoffe ihrer biochemischen Zigaretten geworfen
und dabei ermittelt, daß es sich um eine Mischung aus
Tranquilizern und Muskelrelaxantien mit gerade so viel CNS handelt,
daß sie beim Ausspannen nicht verblödet. Vielleicht war
die Dosis aber doch nicht hoch genug.
Candice fährt mit ihrer Nörgelei fort, und so schaltet
Berlina mental wieder um… »Ich weiß nicht, woher, zum
Teufel, du diese Fixierung hast. Du bist pro Tag gerade zwanzig
Minuten auf Sendung, und der einzige Grund, weshalb ich dich
überhaupt eingestellt habe, mein Schatz, ist der, daß die
verrückten Intendanten sonst die Nachrichtenblöcke zwischen
den Spielfilmen herausnehmen. Stell dir einfach vor, wir wären
noch im zwanzigsten Jahrhundert oder so. Deine Aufgabe besteht nicht
in der Recherche der Nachrichten, nicht in der Aufbereitung der
Nachrichten und auch nicht in der Kommentierung der Nachrichten.
Deine Aufgabe, Berlina« – hier zieht Candice so
kräftig an der Zigarette, daß es selbst ein Rhinozeros
umgehauen hätte, und fährt sich in einer authentisch dem
zwanzigsten Jahrhundert nachempfundenen Geste durchs Haar, was auch
nicht weiter verwunderlich ist, denn schließlich ist sie ein
Kind des zwanzigsten Jahrhunderts –, »und deine einzige
Aufgabe, sage ich, besteht darin, eine gute Figur mit deinem Pullover
zu machen und die Nachrichten zu verlesen. Die Zeit der
Fernseh-Reporter ist vorbei, Brenda Starr.«
Berlina hat keine Ahnung, wer Brenda Starr überhaupt ist.
Wahrscheinlich nur dummes Geschwätz und kein Kompliment.
»Ja«, sagt sie. »Was ist also mit… ach. Hör
zu, ich habe gerade mit meinem Lebensabschnittspartner Schluß
gemacht, und es war eine registrierte Beziehung. Ich wollte deswegen
keine fünf Tage unbezahlten Urlaub nehmen, aber wenn ich den
Nördlichen Hang hinauffahren würde…«
Candice schaut sie an und schüttelt den Kopf. »Du
weißt, welchen arbeitsrechtlichen Ärger es gibt, wenn du
über eine Bergungsaktion
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