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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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berichtest?«
    »Ich könnte es ja als Privatsache deklarieren, als
Hobby. Wenn du es dann senden willst, auch gut. Alles, was ich
möchte, ist ein Presseausweis – und den habe ich eh schon,
weil ich schließlich hier arbeite.«
    Candice seufzt. »Du weißt ja, daß wir in besagter
Woche ein Kelly Girl oder so jemanden als Vertretung für
dich brauchen? Ach, zum Teufel!« Sie stößt eine
weitere Wolke des toxischen Rauches aus. »Schätze, du hast
deine eigene Ausrüstung?«
    »Ja.«
    »Dann tu es halt. Wenn ich es dann sende, dürften die
Chancen ziemlich gut stehen, daß du mich nicht mit
reinreißt.« Sie schüttelt wieder ihre Haarpracht
– warum, in Gottes Namen, fragt Berlina sich, müssen so
viele alte Frauen diese mit Haarfestiger grundierten Mähnen
tragen, wobei ihnen noch eine Lawine von Locken den Rücken
hinabfällt? »Und viel Glück, mein Kind. Und wenn es
mit der TV-Berichterstattung nicht klappt, kannst du dich ja immer
noch als Wikinger oder Hufschmied oder sonst etwas versuchen,
für das heutzutage kein Bedarf mehr besteht.«
    Berlina dankt ihr und hofft, daß sie genau den Ton trifft,
welcher der alten Schlampe schmeichelt, ohne daß es jedoch
übertrieben wirkt. Es ist ihr anscheinend gelungen, denn sie
darf sich eine zweiminütige Ansprache zum Thema ›In deinem
Alter war ich auch so draufgängerisch‹ anhören, die
Art von Geschichten, welche Geschäftsleute, die ganz unten
angefangen haben, gerne zum besten geben.
    Berlina ficht das nicht an; es ist quasi eine Retourkutsche. Es
gelingt ihr, mit einem Lächeln abzutreten.
    Im Parkhaus wirft sie Tasche und Mantel in ihr kleines Auto, gibt
den Zahlencode für die Wegfahrsperre ein, verläßt den
Parkplatz, folgt dem blauen Strich, der die Führungsspur
markiert und überläßt die Heimfahrt dem Autopiloten.
Sie wünscht sich, sie könnte sich ein intelligenteres Auto
leisten, das die Leitspur selbständig verläßt und
einparkt.
    Sie lehnt sich zurück und lächelt innerlich. Das Pendeln
von Banff nach Calgary ist zwar eine zeitraubende Angelegenheit, aber
es lohnt sich, und jetzt, wo sie das tägliche Auspark-Ritual
vollzogen hat, wird das Auto den Rest der Heimfahrt
übernehmen.
    ›Zuhause‹ ist ein ziemlich dehnbarer Begriff für
Berlina. Zunächst einmal ist sie Afroeuropäerin; Alfred
Jameson war ein schwarzer amerikanischer Soldat, dessen Vaterschaft
durch eine Genanalyse nachgewiesen wurde und der dafür zahlte,
daß er sie nie zu Gesicht bekam. Ihre Mutter war eine deutsche
Prostituierte. Berlinas früheste Erinnerungen betreffen eine
Schule für afroeuropäische Waisenkinder, auf der sie von
den Schwestern ›Frances Jameson‹ und vom draußen
versammelten Pöbel ›Niggerin‹ genannt wurde.
    In Europa wurde die Lage für Mischlinge allmählich
bedrohlich, und daher sollte sie Englisch lernen und mit dem
Erreichen der Volljährigkeit in die Staaten zurückkehren.
Sie lief davon, floh vor der kalten, dunklen Schule und aus dem
grausamen Bayern, und lebte frei, frierend und schmutzig einige Jahre
in Berlin.
    Mit neunzehn gab sie sich den Namen der Stadt, die sie liebte,
aber es war eine letzte Geste. Das Berlin, das sie gekannt hatte, gab
es nicht mehr, die Straßen der Stadt wimmelten von
auswärtigen Truppen, nun da Europa vereint und ›kulturell
assimiliert‹ war, um die offizielle Terminologie zu benutzen.
Sie gab sich den Namen, als sie einen Flugschein für einen
Helikopter ausfüllte, der sie zur USS George Bush brachte, in der letzten wilden Woche der Vertreibung.
    Bevor die Parti Uno Euro die Wahlen gewonnen und die
europäische Verfassung revidiert hatte, war Berlin eine Stadt
der Anachronismen gewesen, deren Bewohner sich jeglichen Neuerungen
verschlossen, das einzige, was all die Künstler-Schulen von den
Protonihilisten bis hin zu den Prälektoren verband. Ihr
Interesse am Journalismus war geweckt worden, als sie einen
Sampler-Mix einer Tanzgruppe zusammenstellte, die Ausschnitte aus
alten Reportagen zum Klang eines Schlagzeuges rezitierte und zudem
alles, was sie über XV mitbekam, schreiend in dieses Konglomerat
integrierte.
    Als das Edikt aus dem Jahre 2022 sie und alle anderen
Afroeuropäer auswies, wanderten die meisten von ihnen nach
Nordamerika aus, eine seltsame Rückkehr in ihr Vaterland. Sie
hat sich mit vielen verschiedenen Jobs über Wasser gehalten und
dabei immer zu hören bekommen, was Candice ihr soeben auch
gesagt hatte.
    Sie vermißt Berlin mehr denn je. Sie ist schon in vier
US-Staaten und zwei

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