Die Mutter aller Stürme
jetzt, da sie in den Spiegel schaut, vermißt sie sich selbst.
Sie war durchaus eine attraktive Erscheinung gewesen – die
Männer hatten sich oft nach ihr umgedreht –, bevor man ihr
diese perfekten Brüste modellierte, bevor man ihren ohnehin
schon wohlgeformten Po in eine unglaubliche Rundung verwandelt hatte,
bevor jedes Mikrogramm Fett von den Beinen abgesaugt und der Bauch
mit künstlichen Gewebelagen wie mit einem Innengürtel
ausgekleidet wurde.
Ganz zu schweigen von den allmonatlichen Injektionen, die ihr
naturblondes Haar in einen feuerroten Schopf verwandelten.
»Ich war immer schon schön. Ich habe mir gefallen«,
sagt sie in einem lauten Monolog, und verdammt. Erneut bricht
sie in Tränen aus. Das geht schon seit Monaten so; es
überkommt sie immer in der ersten Stunde, nachdem sie die
Verbindung unterbrochen hat, und diese Befindlichkeit dauert oft
ziemlich lange an. Freizeit ist kostbar. Sie will sie nicht auf diese
Art vergeuden.
Es gibt niemanden, den sie anrufen könnte. Sie hat keine
Geschwister, ihr Vater ist verschwunden, als sie sechs Jahre alt war,
ihre Mutter ist tot, und drei Monate, bevor sie die Stelle bei Passionet bekam und in die Rolle der Synthi schlüpfte,
hatte sie ihren letzten wirklichen Freund gehabt.
Sie hat niemanden, den sie anrufen oder mit dem sie reden
könnte, außer Karen, mit der sie im Data Pattern Pool zusammengearbeitet hatte. Als Mary Ann die Stelle bei Passionet bekam, schworen sie sich ewige Freundschaft, und
bisher hat das auch wirklich gut funktioniert, wenn man bedenkt,
daß sie Karens Appartementgebäude jeden Monat von neuem
kaufen könnte und es finanziell nicht einmal merken würde,
und daß Karen zögerlich gestanden hat, sie würde ihre
Freizeit mittlerweile nur noch in Synthis Kopf verbringen. Aber es
ist erst 06:00 Uhr in Chicago, und Karen hat Frühschicht
(anfangs hatten sie erwogen, daß sie für Mary Ann
arbeitete, zum Beispiel als Persönliche Assistentin; aber dann
sind sie doch zu der Erkenntnis gelangt, daß daran ihre
Freundschaft zerbrochen wäre und Karen vermutlich auch).
Bisher hat sie Karen noch nichts von ihren Weinkrämpfen
erzählt. Sie weiß, daß Karen etwas pikiert sein
wird, weil sie es ihr nicht gleich gesagt hat.
Sei’s drum.
Sie steht früh auf, und zumindest haben sie Seine
Merkwürden, Quaz, noch von hier abgezogen, bevor sie aufwachte;
sie schläft nie in ihrer Freizeit – wenn einer
schläft, dann Synthi, oder, wie das Netz es ihr erklärt
hat, sie schläft als Synthi ein, erlebt die Träume als Mary
Ann und wacht wieder als Synthi auf, wobei sie indessen pauschal als
Synthi bezahlt wird. Was für ein Akt.
Sie geht ins Bad und wäscht sich das Gesicht, wobei sie
hofft, daß dies für heute die letzten Tränen sind,
die sie abwäscht. Sind sie aber nicht. Schon seit Tagen nicht.
Statt dessen scheinen sie jetzt nur um so hemmungsloser zu
strömen, als ob sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr
versiegen wollten.
Aber was hast du denn überhaupt erwartet, Mary Ann? Oder
Synthi? Wer auch immer du jetzt bist? Sie richtet die Frage an
ihr Spiegelbild und weiß nicht mehr, ob sie nun laut spricht
oder leise. Du bist die meiste Zeit deines Lebens unterwegs, woher
solltest du also wissen, warum sie weint?
Sie läßt heißes Wasser in die versenkte Badewanne
ein und ordert dann beim Zimmerservice ein opulentes
Frühstück, von dem sie sich nicht einmal sicher ist, ob sie
es überhaupt ißt: Eier, Tartar, Kartoffeln, alles
Nahrungsmittel, die sie in ihrer Identität als Synthi Venture
nie konsumiert, wenn sie ihr Publikum in die exotische Welt des
Reichtums und der Macht entführt, welche die Leute sonst nie zu
Gesicht bekommen, und daher goutiert sie überwiegend
Delikatessen, von denen die Zuschauer zwar schon gehört haben,
die sie sich aber nicht leisten oder zubereiten können.
Während die Wanne volläuft, holt sie ihre Datenbank
hervor und durchforstet ihre Privatbibliothek nach einem Werk, das
ihr jetzt zusagen würde. Ein weiterer, indes nicht
verwunderlicher Unterschied zwischen ihnen ist der, daß Mary
Ann liest.
Mit einem fast freudigen Gefühl setzt sie sich in die
blubbernde Wanne und liest die Szene im Gasthaus von Bree durch;
mittlerweile kennt sie Der Herr der Ringe schon so gut,
daß sie das Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und die
Handlung dennoch rekonstruieren könnte. Vielleicht ist es
Zeitverschwendung, aber es ist ihre Zeit, die sie vergeudet, und
überhaupt will sie es so. Sie hat
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