Die Mutter der Königin (German Edition)
verstehe.
«Wenn du jemanden verfluchst …» Sie macht eine Pause und seufzt, als wäre sie müde. «Achte auf deine Worte, Jacquetta, vor allem beim Fluchen. Sag nur, was du wirklich meinst, sei sicher, dass du den Richtigen mit deinem Fluch belegst. Denn wenn du solche Worte in die Welt hinausschickst, können sie ihr Ziel verfehlen – ein Fluch kann wie ein Pfeil am Ziel vorbeischießen und einen anderen treffen. Eine weise Frau verflucht nur äußerst selten.»
Ich schaudere, obwohl es im Zimmer warm ist.
«Ich werde dich noch mehr lehren», verspricht sie mir. «Es ist dein Erbe, denn du bist das älteste Mädchen.»
«Wissen Jungen nichts davon? Mein Bruder Louis?»
Aus ihren halb geöffneten Augen fällt ein träger Blick auf mich, und sie lächelt. «Männer herrschen über die Welt, die sie kennen», erwidert sie. «Was Männer kennen, unterwerfen sie. Was sie in Erfahrung bringen, beanspruchen sie für sich. Sie sind wie Alchemisten, die nach den Gesetzen suchen, die die Welt regieren, um sie zu besitzen und geheim zu halten. Alles, was sie entdecken, eignen sie sich an, und ihre Erkenntnisse formen sie nach ihrem eigenen selbstsüchtigen Bild. Was bleibt uns Frauen da, außer dem Reich des Unbekannten?»
«Aber kann eine Frau keinen wichtigen Platz in der Welt einnehmen? Du tust es, Großtante, und Jolanthe von Aragón wird die Königin der vier Königreiche genannt. Werde ich nicht über weite Gebiete herrschen so wie ihr?»
«Vielleicht. Aber ich warne dich: Eine Frau, die nach großer Macht und Wohlstand strebt, zahlt dafür einen hohen Preis. Vielleicht wirst du eine große Frau wie Melusine, Jolanthe oder ich, aber es wird dir gehen wie allen Frauen, du wirst dich unbehaglich fühlen in der Welt der Männer. Du wirst dein Bestes geben – vielleicht kommst du durch eine Heirat oder ein Erbe an die Macht –, aber du wirst das Pflaster unter deinen Füßen immer hart finden. In der anderen Welt – nun, wer kennt sich da schon aus? Vielleicht werden sie dich hören und du sie.»
«Was werde ich hören?»
Sie lächelt. «Das weißt du. Du hörst es doch schon.»
«Stimmen?», frage ich und denke an Johanna.
«Vielleicht.»
Langsam ebbt die Hitzewelle ab, und im September wird es kühler. Die Bäume des großen Waldes am See wechseln die Farbe von müdem Grün zu einem vertrockneten Gelb, und die Schwalben schwirren jeden Abend um die Türmchen der Burg, als wollten sie sich bis zum nächsten Jahr verabschieden. Sie jagen sich in schwindelerregendem Taumeln, wie Schleier, die beim Tanzen durch die Luft gewirbelt werden. In den langen Reihen der Rebstöcke werden die Trauben schwer, und jeden Tag gehen die stämmigen Bauersfrauen mit hochgekrempelten Ärmeln hinaus, pflücken die Weintrauben und legen sie in große Weidenkörbe, die von den Männern in Karren geleert und zur Presse gefahren werden. Ein starker Geruch nach Obst und gärendem Wein liegt über dem Dorf, alle haben violette Füße und blaue Flecken an Hosen und Röcken. Es heißt, die Ernte sei gut dieses Jahr, reich und üppig. Wenn ich mit den Hofdamen durch das Dorf reite, rufen sie uns heran, damit wir den neuen Wein kosten, der hell und sauer ist und im Mund prickelt, und dann lachen sie über unsere zusammengezogenen Gesichter.
Meine Großtante sitzt nicht mehr aufrecht in ihrem Sessel, um ihre Frauen zu beaufsichtigen und über sie hinweg auf die Burg und die Ländereien meines Onkels zu blicken wie zu Beginn des Sommers. Während die Sonne ihre Kraft verliert, scheint auch sie blass und kalt zu werden. Vom späten Vormittag bis zum frühen Abend ruht sie im Liegen und erhebt sich nur, um an der Seite meines Onkels in die große Halle zu gehen. Wenn die Männer den Lord und die Lady kommen sehen und mit ihren Dolchen auf die Holztische klopfen, beantwortet sie die polternde Begrüßung mit einem Kopfnicken.
Johanna betet auf ihrem täglichen Kirchgang für sie, doch ich finde mich einfach wie ein Kind mit dem veränderten Tagesablauf meiner Großtante ab. Am Nachmittag setze ich mich zu ihr, um ihr vorzulesen und darauf zu warten, dass sie mir etwas über die Gebete erzählt, die wie Papierschiffchen auf dem Fluss ins Meer getrieben sind, bevor ich geboren wurde. Dann breite ich die Karten ihres Spiels aus, und sie erklärt mir deren Namen und Bedeutungen.
«Und jetzt lies für mich aus ihnen», sagt sie eines Tages und klopft mit ihren dünnen Fingern auf eine Karte. «Was ist das für eine?»
Ich drehe sie um.
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