Die Mutter der Königin (German Edition)
Bretter des Badehauses späht. Im Vordergrund ist die Frau im Bad zu sehen, ihre schönen Haare schmiegen sich um ihre weißen Schultern. Und durch das Wasser schimmert … ihr großer, schuppiger Schwanz.
«Ist sie ein Fisch?», flüstere ich.
«Sie ist kein Wesen von dieser Welt», antwortet meine Großtante leise. «Sie hat versucht zu leben wie eine gewöhnliche Frau, doch manche Frauen können kein gewöhnliches Leben führen. Sie hat versucht, die normalen Wege zu gehen, aber einige Frauen können ihre Füße nicht auf diese Pfade setzen. Wir leben in einer Männerwelt, Jacquetta, und es gibt Frauen, die nicht nach dem Takt der Trommel eines Mannes marschieren können. Verstehst du das?»
Natürlich nicht. Ich bin zu jung, um zu begreifen, dass ein Mann und eine Frau sich so sehr lieben können, dass ihre Herzen im selben Rhythmus zu schlagen scheinen, sie zugleich aber genau wissen, wie hoffnungslos verschieden sie sind.
«Wie auch immer, du kannst weiterlesen. Es ist nicht mehr viel.»
Der Gemahl erträgt es nicht, dass seine Frau ein fremdes Wesen ist. Und sie kann ihm nicht vergeben, dass er ihr nachspioniert hat. Sie verlässt ihn und nimmt ihre schönen Töchter mit, während er mit gebrochenem Herzen bei den Söhnen zurückbleibt. Doch als er stirbt, kommt seine Frau Melusine, die schöne Frau, die eine Undine, eine Wassergöttin war, zu ihm zurück, und er hört sie an den Festungsmauern weinen um die Kinder, die sie verloren hat, um den Gemahl, den sie immer noch liebt, und um die Welt, in der kein Platz für sie ist – so wie sie es bis heute tut, wenn einer aus unserem Hause stirbt.
Ich schließe das Buch, und es breitet sich ein so langes Schweigen aus, dass ich glaube, meine Großtante sei eingeschlafen.
«Einige Frauen unserer Familie besitzen die Gabe des Voraussagens», bemerkt meine Tante leise. «Einige haben Melusines Kräfte geerbt, Kräfte der anderen Welt, in der sie lebt. Einige von uns sind ihre Töchter, ihre Erbinnen.»
Ich wage kaum zu atmen, so gespannt bin ich auf das, was sie mir zu sagen hat.
«Jacquetta, glaubst du, du könntest eine dieser Frauen sein?»
«Vielleicht», flüstere ich. «Ich hoffe es.»
«Du musst zuhören», sagt sie sanft. «Der Stille lauschen, nach nichts Ausschau halten. Und wachsam sein. Melusine ist eine Gestaltwandlerin, wie Quecksilber, sie fließt von einem Ding zum nächsten. Du kannst sie überall sehen, sie ist wie Wasser. Aber manchmal siehst du auch nur dein eigenes Spiegelbild auf der Wasseroberfläche eines Flusses, sosehr du auch in die grünen Tiefen starrst.»
«Wird sie mich lenken?»
«Das musst du selbst tun, aber es kann geschehen, dass du sie hörst, wenn sie mit dir spricht.» Sie hält inne. «Bring mir meine Schmuckschatulle.» Sie deutet auf die große Truhe am Fußende des Bettes. Ich öffne den knarzenden Deckel. Dort liegen Kleider, die in gepuderte Seide eingehüllt sind, und daneben steht eine große Holzkiste, deren Schubladen mit den kostbaren Juwelen meiner Großtante gefüllt sind. «Sieh in der kleinsten Schublade nach», sagt sie.
Darin liegt eine kleine Samtbörse. Als ich die quastenverzierten Bänder aufbinde und die Börse öffne, fällt mir ein schweres goldenes Armband in die Hand, mit gewiss zweihundert verschiedenen kleinen Glücksbringern behängt. Ein Schiff, ein Pferd, ein Stern, ein Löffel, eine Peitsche, ein Falke, ein Paar Sporen.
«Wenn du etwas wissen willst, das dir ganz besonders wichtig ist, dann wähle zwei oder drei Glücksbringer als Symbole für die Zukunft oder für die Dinge oder Wege, zwischen denen du wählen kannst. Binde jeden an einen Faden und wirf sie in einen Fluss, in den Fluss, der deinem Haus am nächsten ist, den du in der Nacht hörst, wenn alles verstummt ist, nur die Stimme des Wassers nicht. Dort bleiben sie bis zum Vollmond. Dann schneide alle Fäden bis auf einen durch und den ziehe heraus, um deine Zukunft zu erkennen. Der Fluss gibt dir die Antwort. Der Fluss wird dir sagen, was du zu tun hast.»
Ich nicke. Das Armband liegt kalt und schwer in meiner Hand, jeder Glücksbringer eine Wahl, eine Möglichkeit, ein künftiger Fehler.
«Und wenn du dir etwas wünschst: Geh hinaus und flüstere es dem Fluss zu – als würdest du beten. Wenn du jemanden verfluchst: Schreib es auf ein Stück Papier und lass es wie ein Papierschiffchen auf dem Fluss schwimmen. Der Fluss ist dein Verbündeter, dein Freund – verstehst du mich?»
Ich nicke, auch wenn ich gar nichts
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