Die Mutter der Königin (German Edition)
uns. Er soll ihr Lösegeld verhandeln. Sie wird unter der Anklage der Ketzerei vor ein kirchliches Gericht geladen. Es geht um ungeheuerliche Summen: zwanzigtausend Livre für den Mann, der sie vom Pferd gezogen hat, zehntausend Francs für meinen Onkel mit den besten Wünschen des Königs von England. Mein Onkel hört nicht auf seine Frau, die Johanna bei uns behalten will. Ich bin zu unwichtig, ich habe keine Stimme, und so muss ich stumm mit ansehen, wie mein Onkel einwilligt, Johanna der Kirche zur Befragung zu überstellen.
«Ich händige sie nicht den Engländern aus», sagt er zu seiner Frau. «Darum hat die Demoiselle mich gebeten, und ich habe es nicht vergessen. Ich lasse sie nur der Kirche überstellen. Dort kann sie ihren Namen von allen Anklagen reinwaschen. Sie wird von Männern Gottes angeklagt, und wenn sie unschuldig ist, werden sie es herausfinden und sie freilassen.»
Sie sieht ihn ausdruckslos an, als wäre er der Tod persönlich, und ich frage mich, ob er diesen Unsinn wirklich glaubt. Oder ob er denkt, wir Frauen wären solche Närrinnen, dass wir annehmen, eine Kirche, die von den Engländern abhängig ist, deren Bischöfe von den Engländern ernannt werden, werde ihren Herrschern und Geldgebern erklären, die Jungfrau, die ganz Frankreich gegen sie aufgebracht hat, sei nur ein ganz gewöhnliches Mädchen, vielleicht etwas vorlaut, vielleicht auch ein wenig ungezogen, man solle ihr drei Ave-Maria auferlegen und sie auf ihren Bauernhof zurückschicken, zu ihrer Mutter und ihrem Vater und ihren Kühen.
«Mylord, wer wird es Jeanne sagen?», ist alles, was ich mich zu fragen traue.
«Oh, sie weiß es schon», sagt er über die Schulter, während er aus der Halle geht, um Pierre Cauchon am großen Tor zu verabschieden. «Ich habe einen Pagen geschickt, der ihr ausrichten soll, sich bereitzuhalten. Sie muss jetzt gleich mit ihnen gehen.»
Als ich das höre, werde ich von abgrundtiefem Entsetzen gepackt. Ich habe eine Vorahnung und renne los, renne, als gelte es mein Leben. Nicht zu den Frauengemächern, wo der Page Johanna gefunden haben wird, um ihr mitzuteilen, dass die Engländer sie bekommen werden. Nicht zu ihrer alten Zelle, wo sie ihren kleinen Rucksack geholt haben könnte, in dem ihre Sachen sind: ihr Holzlöffel, ihr scharfer Dolch, das Gebetbuch, das meine Großtante ihr geschenkt hat. Nein, ich haste die gewundene Treppe zum ersten Stock hinauf, schieße durch die Galerie und durch die niedrige Tür, deren Torbogen meinen Kopfschmuck herunterreißt, dass die Nadeln an meinen Haaren ziehen, und stürme die Wendeltreppe hinauf. Meine Füße poltern auf den Steinstufen, mein Atem geht stoßweise, das Kleid halte ich mit den Händen gerafft, und so stürze ich hinaus auf das flache Dach des Turms und sehe Johanna, auf der Mauer balancierend, bereit, wie ein Vogel zu fliegen. Als sie die Tür knallen hört, sieht sie mich über die Schulter an, und ich schreie: «Nein! Jeanne!», und dann macht sie einen Schritt ins Leere.
Das Schlimmste von allem, das Allerschlimmste ist, dass sie nicht springt wie ein erschrecktes Reh. Ich hatte Angst, sie würde springen, doch sie tut etwas viel Schlimmeres. Sie macht einen Hechtsprung. Kopfüber springt sie über die Zinne, und als ich an die Mauerkrone haste, sehe ich, dass sie wie eine Tänzerin hinunterfliegt, wie eine Akrobatin, die Hände hinter dem Rücken, ein Bein ausgestreckt, das andere gebeugt, die Zehen zum Knie gerichtet, und ich sehe, dass sie in diesem atemberaubenden Moment, da sie fällt, die Haltung des Pendu , des Gehängten, angenommen hat. Und dass sie mit seinem ruhigen Lächeln auf ihrem ernsten Gesicht kopfüber in den Tod geht.
Das dumpfe Aufschlagen am Fuß des Turms ist entsetzlich. Es hallt mir in den Ohren wider, als würde mein Kopf dort unten im Matsch feststecken. Ich will hinunterrennen, um sie aufzuheben, die Jungfrau von Orléans, die dort unten liegt wie ein Bündel alter Kleider. Aber ich kann mich nicht bewegen. Meine Knie geben nach, ich klammere mich an den Steinzinnen fest, die so kalt sind wie meine zerkratzten Hände. Ich weine nicht um sie, auch wenn mein Atem immer noch stockend geht; ich bin erstarrt vor Entsetzen, mir zieht es den Boden unter Füßen weg. Johanna war eine junge Frau, die versuchte, in der Welt der Männer ihren eigenen Weg zu gehen, genau wie es mir meine Großtante erzählt hat. Und dieser Weg hat sie hierhergeführt, zu diesem kalten Turm, zu diesem Kopfsprung, in diesen Tod.
Sie
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