Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
loslässt.«
Es war merkwürdig – damals war Balthasar davon ausgegangen, dass der alte Mann von Marias und Josefs Baby sprach. Doch jetzt wusste er … dass er Abdi gemeint hatte. Und als diese Erkenntnis ihn so richtig traf, kehrten die Tränen in Balthasars Augen zurück, sodass Sela fragte: »Balthasar? Alles in Ordnung?«
Er drehte sich zu ihr und lächelte, bewunderte ihre Schönheit, die sich weder von Schmutz noch getrocknetem Blut beeinträchtigen ließ, und antwortete aufrichtig: »Ja.«
Vor ihnen war nichts außer dem glatten, ruhigen Meer, in dem sich der ganze Himmel widerspiegelte. Balthasar wusste nicht, wann sie Land sichten würden, oder ob jenes Land Ägypten wäre oder Judäa oder gar Rom. Nichts könnte ihn mehr überraschen, ebenso wenig könnte etwas seinen Glauben erschüttern, dass Gott, oder wie auch immer man es nennen wollte, sie retten würde, ganz egal, welche Stürme noch vor ihnen liegen sollten.
»Wenn ihr in einen Krieg mit einem Gegner verwickelt werdet, der euch bedrängt, dann blast mit euren Trompeten Alarm! So werdet ihr euch beim Herrn, eurem Gott, in Erinnerung bringen und vor euren Feinden gerettet werden.«
– Numeri 10,9
Rom stand in Flammen.
In weniger als zwei Stunden hatte sich das Feuer von einer einzelnen Villa ausgebreitet, bis es den Großteil des reichsten Bezirks der Stadt zerstört hatte, wo Senatoren, Generäle und die ganz gewöhnlichen Reichen im Schatten des Palastes von Kaiser Nero wohnten. Doch die Häuser waren genauso klaustrophobisch wie luxuriös, dicht aneinandergedrängt, um das meiste aus dem kostbaren Grund und Boden herauszuholen, und diese von Gier gesteuerte Bebauung hatte das Viertel dem Untergang geweiht. Soldaten und Bürger rannten auf den schmalen Straßen hin und her, schleppten Wassereimer zwischen Brunnen und Bädern und der Feuersbrunst. Hausbesitzer zerrten so rasch wie möglich nach draußen, was auch immer sie an Kostbarkeiten tragen konnten, bevor ihre Häuser den Flammen anheimfielen. Viele verbrannten dank dieser Anstrengungen bei lebendigem Leib. Als alles vorüber war, hatte sich beinahe eine Quadratmeile Roms zu Asche verwandelt, die Hälfte von Neros Palast eingeschlossen.
Obwohl Nero in die Annalen der Geschichte einging als der Verrückte, der während des Brandes seiner Stadt Geige spielte, war dem nicht so. Ganz im Gegenteil: Der Anblick der brennenden Stadt hatte ihn derart in Panik versetzt, dass er selbst auf die Straße gelaufen war, um Wassereimer zu schleppen und den tapferen Menschen, welche die Flammen aus der Nähe bekämpften, sein eigenes Geld anzubieten.
In den folgenden Monaten, als empörte Römer Antworten verlangten und den Kaiser bezichtigten, hinter der Feuersbrunst zu stecken, wohl um Platz für einen größeren Palast zu schaffen, würde Nero bekanntlich aus taktischer Raffinesse eine kleine, lästige Sekte von Eiferern, die sich selbst »Christen« nannten, zum Sündenbock machen – er ließ sie zum Entzücken der Massen auf dem Scheiterhaufen verbrennen, kreuzigen und den Löwen vorwerfen. Doch dies führte lediglich dazu, dass diese Christen in den Augen der Römer zu Märtyrern wurden, und beschleunigte ihren Zulauf. Jahrhunderte später fragten sich Gelehrte, ob die winzige Sekte ohne den Großen Brand Roms und die anschließende Verfolgung überlebt hätte.
Manche sprachen sogar von »dem Funken, der die Welt in Flammen aufgehen ließ.«
Doch derartige Ambitionen hegte der alte Mann nicht, als er den Brand legte. Er löste lediglich ein Versprechen ein.
Er beobachtete von seinem Aussichtspunkt hoch oben auf einem Hügel über Rom, wie sich das Feuer ausbreitete. Das ferne Leuchten der Flammen ließ die Falten in seinem Gesicht tiefer erscheinen, als sie tatsächlich waren. Ein Kamel lag hinter ihm auf dem Boden und wartete geduldig auf seinen alten Reiter. Der Mann war zu weit entfernt und zu taub, um die panischen Schreie zu hören, doch er sah, wie das Feuer von Minute zu Minute wuchs und die Menschen wie Wespen herumschwirrten, deren Nest gerade von einem Baum geschlagen worden war. Und dies zauberte den Anflug eines Lächelns auf sein wettergegerbtes Gesicht.
Balthasar war beinahe neunzig Jahre alt. Er war mit fünf wunderschönen Kindern und einem langen, erfüllten Leben mit seiner einzigen wahren Liebe gesegnet worden. Es hatten sich keine Wunder mehr ereignet in den sechs Jahrzehnten, die seit jenen zwei Wochen vergangen waren – einer Zeit, die Sela und er rückblickend als
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