Die Nachhut
bewundern: Wie er alle verrückt macht, ohne dass es auf ihn zurückfällt. Wie er gleichzeitig seinen schärfsten Widersacher ausgeschaltet hat - geradezu genial. Trotzdem bleibt es dabei: Wir dürfen den Bunker auf keinen Fall verlassen. Es wäre Fahnenflucht, nichts weiter.
Sicher bringt Konrad draußen gerade wieder seine Lieblings-Dienstvorschrift in Stellung, die angeblich den eigenmächtigen Rückzug versprengter Truppenteile rechtfertigt. Wie oft wir darüber schon gestritten haben! Josef Stahl hält sich wahrscheinlich wie immer raus oder drängt auf eine Mehrheitsentscheidung, weil er weiter Halma spielen will. Üblicherweise verbietet Otto die Diskussion dann ganz, bevor es zum Schwur kommt. Zu viel Für und Wider ist ihm einfach zu anstrengend. Aber so, wie es sich heute anläßt, kann man sich darauf auch nicht mehr verlassen.
Es ist 18 Uhr durch, als mich die Kameraden endlich aus dem Arrest holen: Alle sind völlig aus dem Häuschen. Diesmal hat es Konrad also geschafft und wird selbst vor Aufregung immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Josef packt schon. Otto tut, als habe er den Ausstieg selbst befohlen. Und natürlich werde auch ich mich seinem Befehl beugen, aber - oh Gott, Liesbeth - frag nicht, wie es mir dabei geht! In einer Stunde soll Ausrüstungsappell sein. Befohlen sind Marschgepäck und Verpflegung für zwei Tage. Josef verteilt zusätzlich Munition und hat sogar an Schutzbrillen gedacht, die ursprünglich zu einer Höhensonne für die hohen Herrschaften gehörten. Vor allem Josef, das weiß ich genau, hat sie heimlich oft benutzt, bis die Quarzlampe kaputtging. Nun will er uns damit das ungewohnte Tageslicht erträglich machen, aber selbst keine aufsetzen - und rate mal warum: Wegen seiner Frisur! Also nimmt Konrad eine Brille, ich die andere. Otto hat ja seine Augenklappe. Und während wir uns alle noch einmal rasieren, laufen Wetten, ob draußen Tag ist oder Nacht. Als wenn uns da oben nicht Schlimmeres erwartet!
Bis auf das aktuelle Heft muss ich meine Aufzeichnung zurücklassen. Auch deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich meinen Protest gegen die befohlene Befehlsverweigerung dokumentieren. Sollte man meine Notizen eines Tages finden, wird man darin alles nachlesen können, leider auch alles Private an Dich. Doch glaub mir, Liesbeth, niemand muß dabei erröten. Nichts Schmutziges ist an unserer Liebe, nicht in Worten, fast nichts in Gedanken und - ach, Du weißt selbst, was alles unerfüllt blieb. Vielleicht macht ja gerade das die größte Liebe aus?
20 Uhr - Abmarschbereitschaft: Das kleine grüne Notlämpchen leuchtet auf, als wir die Tür zur Gasschleuse öffnen. Die Handsirene, die leeren Käfige der Kanarienvögel, darunter die Kiste mit den Gasmasken. Jede Kleinigkeit, jede Ecke in DB 10 habe ich so oft betrachtet. Und jetzt soll es das letzte Mal sein? Ein seltsames Gefühl ist das, beinahe wie Wehmut.
Der Haupteingang im Süden ist seit 20 Jahren verschüttet. Niemand weiß, wie es oberhalb des Notausstiegs aussieht. Eine unheimliche Anspannung macht sich breit. Konrad und Josef stemmen sich gegen das Drehkreuz. Die Zangenmechanik der ersten Drucklufttür quietscht sofort, dann bewegen sich die Bolzen. Dahinter die Treppe - unversehrt. Gott steh uns bei!
Es war fast Mitternacht, als Busch plötzlich auf die Bremse trat. Wie ein Yo-Yo am Ende der Schnur flog ich in den Gurt. Und ob es nun Rehe waren oder Sekundenschlaf - geschenkt. Mit müden Augen sieht jeder Gespenster. Deshalb musste er nicht ewig in die Finsternis starren und stur behaupten, vor ihm seien eben zwei Gestalten über den Weg gehuscht. Gerade wollte ich zaghaft anbieten, das Steuer zu übernehmen, da drehte er sich hellwach zu mir um.
»Wackersdorf«, sagte er, »nur damit das ein für alle Mal klar ist: Wackersdorf war nicht umsonst! «
Zufrieden nahm er den letzten Schluck aus seiner Cola-Flasche und selbst wenn ich gewusst hätte, was er meinte, hätte ich sicher nichts mehr gesagt. Wackersdorf? Meinetwegen! An einen Fahrerwechsel war jedenfalls nicht mehr zu denken. Doch dann räumte Busch auf einmal von sich aus das Steuer. Und es muss nicht unbedingt an mir gelegen haben, aber kaum war ich zehn Minuten gefahren, meldete sich das erste Handy zurück, dann das zweite und schließlich sogar Jenny
»Da, ein Licht! «
Sie hatte es zuerst gesehen und jauchzte, als wären wir tagelang verschüttet gewesen. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne tauchte ein gelbes Schild
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