Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
geschlagen hatte, wurde jedoch auf völlig unerwartete Weise gelindert. Seit Ephs Verhalten immer erratischer und zwanghafter geworden war – das hatte schon in den Monaten im Tunnel begonnen und war nach ihrer Rückkehr an die Oberfläche nur noch stärker geworden –, hatte sich Nora Martinez an Vasiliy gewandt, wenn sie einen Rat brauchte oder einfach nur die Nähe zu einem anderen Menschen suchte. Und im Laufe der Zeit hatte Vasiliy gelernt, auf ihre Annäherungen zu reagieren. Er bewunderte Noras Kraft angesichts der verzweifelten Lage, in der sie sich befanden. Viele andere waren unter dieser Last zusammengebrochen, waren wahnsinnig geworden oder hatten, wie Eph, einen Persönlichkeitswandel durchgemacht – aber nicht Nora. Und offenbar sah sie ihrerseits auch etwas in Vasiliy – vielleicht das, was auch der Professor in ihm gesehen hatte: eine innere Würde und Größe, derjenigen eines Lasttiers nicht unähnlich. Vasiliy hatte nie darüber nachgedacht, aber wenn diese Qualitäten – Standhaftigkeit, Willensstärke, womöglich auch eine gewisse Skrupellosigkeit – ihn in Noras Augen attraktiver machten, dann sollte ihm das nur recht sein.
Um Eph nicht zu verletzen, hatte er sich zunächst dagegen gesträubt, mit Nora irgendeine Art von Verhältnis einzugehen, und seine Gefühle unterdrückt. Aber es war inzwischen unübersehbar, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Am Vorabend seiner Abreise nach Island saß er beim Essen neben ihr, und sein Bein berührte ihr Bein. Nichts Ungewöhnliches unter Freunden – aber ungewöhnlich für Vasiliy, einem großen, korpulenten Mann, der sich des Raumes, den er einnahm, nur allzu bewusst war und deshalb instinktiv Distanz zu seinen Mitmenschen hielt. Aber jetzt lehnte sein Knie an Noras Knie, und sein Herz schlug schneller, als ihm bewusst wurde, dass sie sich nicht gegen die Berührung sperrte, sondern dass sie im Gegenteil ihr Knie an seines drückte …
Später bat sie ihn, auf der Reise auf sich Acht zu geben, und als sie das sagte, sah er ein feuchtes Schimmern in ihren Augen.
Nie zuvor hatte jemand wegen Vasiliy Fet Tränen in den Augen gehabt.
Manhattan
Eph nahm die Linie 7 stadteinwärts. Die Hände an den Fensterrahmen geklammert, die Füße auf der schmalen Stahltreppe, hing er am hinteren Ende des letzten Waggons und schaukelte im Rhythmus des fahrenden Zuges hin und her. Er hatte sich die Kapuze weit über den Kopf gezogen; Wind und Regen peitschten seine schwarzgraue Jacke.
Es war noch nicht allzu lange her, da hatten sich die Vampire an die Außenseite der U-Bahn-Waggons klammern müssen, um sich unentdeckt durch Manhattan bewegen zu können. Jetzt beobachtete Eph durch das Fenster, an dem er hing, die ausdruckslosen Gesichter der menschlichen Passagiere, ihre ins Nichts starrenden Blicke. Es schien wie eine ganz normale Alltagsszene, aber er wagte es nicht, länger hinzusehen – wenn strigoi im Zug waren, könnten sie ihm mit ihrer Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, auf die Schliche kommen und ihm an der nächsten Station einen ungemütlichen Empfang bereiten. Eph war offiziell immer noch auf der Flucht; sein Foto hing in allen Polizeistationen und Postämtern der Stadt, und im Fernsehen wurde der Bericht über sein gelungenes Attentat auf den Milliardär Palmer Eldritch – eine ziemlich gut gemachte Fälschung –, Woche für Woche wiederholt, so dass sein Name und Gesicht dem aufmerksamen Bürger im Bewusstsein blieb.
Um sich effizient mit den Zügen durch die Stadt zu bewegen, bedurfte es einiger besonderer Fähigkeiten, die sich Eph im Laufe der Zeit angeeignet hatte. Die Tunnel waren feucht und stanken nach verbranntem Ozon und altem Öl, so dass seine zerrissene, verdreckte Kleidung in dieser Umgebung eine perfekte Tarnung war. Sich an einer anfahrenden U-Bahn festzuhalten, setzte außerdem präzises Timing voraus; doch dafür musste er sich nur ein paar Tricks aus seiner Kindheit in Erinnerung rufen. Damals in San Francisco hatte er sich an die berühmten Streetcars gehängt, um schneller zur Schule zu kommen. Und da hatte man auch genau den richtigen Moment erwischen müssen. Zu früh – und man wurde vom Schaffner entdeckt. Zu spät – und man kam ins Stolpern und knallte auf das Straßenpflaster.
Tatsächlich war Eph bei seinen U-Bahn-Fahrten schon einige Male ins Stolpern geraten und übel gestürzt – meistens wenn er zu viel getrunken hatte. Einmal, als der Zug in eine scharfe Kurve unter der Tremont Avenue fuhr, verloren
Weitere Kostenlose Bücher